Gastkommentar

Russlands gefährlicher nuklearer Konsens

Peter Kufner
  • Drucken
  • Kommentieren

Seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine droht ein Albtraumszenario: Putin könnte sein Amt verlieren und ein fragmentiertes Russland hinterlassen, in dem diverse „Warlords“ um die Macht kämpfen.

Die Autorin

Ana de Palacio
(* 1948 in Madrid) studierte Rechts- und Politikwissenschaften sowie Soziologie. Ab 1994 Abgeordnete im Europäischen Parlament. Von 2002 bis 2004 spanische Außenministerin, später Vizepräsidentin der Weltbank. Derzeit Mitglied des spanischen Staatsrates und Gastdozentin an der Georgetown University.

Die Rebellion des Wagner-Chefs Jewgeni Prigoschin hat gezeigt, wie fragil das Regime des russischen Präsidenten Wladimir Putin ist. Obwohl Prigoschin bald aufgab und seinen Söldnertruppen befahl, ihren Vormarsch auf Moskau zu beenden, verdeutlicht der Aufstand erneut, wie gefährlich eine aggressive und instabile Nuklearmacht für die Welt ist.

Seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 – und insbesondere, seit klar ist, dass der vor Putin offensichtlich erwartete schnelle Sieg ausbleiben würde – droht ein Albtraumszenario: Putin könnte sein Amt verlieren und ein fragmentiertes Russland hinterlassen, in dem diverse „Warlords“ um die Macht kämpfen – und um die Kontrolle über das weltweit größte Atomarsenal.

Als Prigoschin dem russischen Militär Angriffe auf die Feldlager der Wagner-Gruppe vorwarf, die südlichen Militärstützpunkte in Rostow am Don besetzte und seine Söldner auf den Weg nach Moskau schickte, schien dieses Szenario in greifbarer Nähe. Und dass dieser Putsch nicht zustande kam, heißt nicht, dass kein weiterer folgen wird – insbesondere angesichts der Unterstützung, die Prigoschin bei Teilen der russischen Bevölkerung zu genießen scheint.

Eine akute Gefahr

Aber selbst wenn Putin im Kreml bleibt, sind die russischen Atomwaffen eine akute Gefahr. Immerhin ist es die Drohung mit einer nuklearen Eskalation, die den Westen daran gehindert hat, zur Verteidigung der Ukraine direkt militärisch einzugreifen. Und diese Drohung hat die die NATO auch dazu gezwungen, die militärische Unterstützung der ukrainischen Kämpfer zeitlich und materiell sorgfältig abzustimmen.

Tatsächlich hat Putin den Westen wiederholt gewarnt, nicht zu weit zu gehen. Bereits 2014 hatte Russland – im Jahr seines Einmarschs in die ostukrainische Donbas-Region und der Besatzung der Krim – seine Militärdoktrin geändert. Seitdem ermöglicht es diese, einen konventionellen Angriff, der die Existenz des russischen Staats bedroht, mit einem nuklearen Erstschlag zu beantworten. Vier Jahre später hat Putin dieses Prinzip bestätigt: Ja, es wäre eine „globale Katastrophe“, erklärte er, aber eine Welt ohne Russland sei sowieso nicht wert zu existieren.

Kürzlich hat Putin sein nukleares Säbelrasseln noch verschärft. Im letzten September hielt er eine Rede, in der er die Annektierung vier weiterer ukrainischer Oblasten bekannt gab. Darin verurteilte er wiederholt das militärische Vorgehen der USA und betonte, sie seien das einzige Land, das jemals Atomwaffen eingesetzt hat.

Anfang dieses Monats hat Putin dann erneut seine Bereitschaft bestätigt, Nuklearwaffen einzusetzen, um „die Existenz des russischen Staates“ sowie seine „territoriale Integrität, Unabhängigkeit und Souveränität“ zu schützen. Außerdem bezeichnete er Russlands massives Arsenal als „Wettbewerbsvorteil“ gegenüber der NATO. Und im Februar hatte er bereits das „New START“-Abkommen gekündigt – Russlands letztes verbleibendes atomares Rüstungskontrollabkommen mit den USA.

Kürzlich schlossen sich Putins provokativer nuklearer Rhetorik auch andere hochrangige Russen an: In einem aktuellen Kommentar setzte sich Sergei Karaganow, der Ehrenvorsitzende des russischen Rats für Außen- und Verteidigungspolitik, für präventive Atomschläge ein. Würde Russland „in ein paar Ländern ein paar Ziele treffen“, könnte es „die, die ihren Verstand verloren haben, zur Vernunft bringen“ und „den Willen des Westens brechen“.

Ein schockierender Vorschlag

Selbst von einem Falken wie Karaganow ist dies ein schockierender Vorschlag. Vielleicht noch beängstigender sind aber ähnlich reißerische Aussagen traditionell gemäßigterer Akteure: Dmitri Trenin – der ehemalige Direktor des Carnegie Moscow Center, der in Russland lange als Stimme der Vernunft galt – setzt sich nun dafür ein, die „nukleare Patrone“ in die „Revolvertrommel“ zu laden. Trenin legt nahe, ein Präventivschlag könne die „Mythologie“ der NATO-Klausel zur gemeinsamen Verteidigung entlarven und zur Auflösung des Bündnisses führen.

Natürlich gab es auch Widerspruch: Prominente wie Fjodor Lukjanow, Präsidiumsvorsitzender des Rats für Außen- und Verteidigungspolitik, Iwan Timofeew, Generaldirektor des Russischen Rats für Internationale Angelegenheiten, und Alexei Arbatow von der Russischen Akademie der Wissenschaften haben Karaganows Logik in Frage gestellt.

Aber solche Argumente müssen immer in patriotische Begriffe gekleidet werden, da die Repressionen in Russland immer mehr an die Sowjetzeit erinnern – verdeutlicht durch die kürzliche Verhaftung des „Wall Street Journal“-Reporters Ewan Gerschkowitsch und die skandalöse Gefängnisstrafe gegen den Oppositionellen Wladimir Kara-Mursa. Immer schon war externe Aggression in Russland oft auch mit innenpolitischen Repressionen verbunden.

Bis jetzt sagt Putin, Russland müsse keine Nuklearwaffen einsetzen – zumindest nicht, um die Existenz des russischen Staates zu verteidigen. Aber ein Söldnerführer wie Prigoschin könnte anderer Meinung sein. Auf jeden Fall erscheint der Einsatz begrenzt wirksamer „taktischer“ Atomwaffen in der Ukraine als zunehmend wahrscheinlich. Während Russlands konventionelles Arsenal zur Neige geht, hat das Land einige dieser Atomwaffen auf das Gebiet seines engsten Verbündeten Belarus verlegt, und plant, weitere folgen zu lassen.

Im April glaubte ein Drittel der Russen, die vom Levada Center befragt wurden, ihre Führung sei bereit, in der Ukraine Nuklearwaffen einzusetzen, aber 86% der Russen meinen, solche Waffen sollten unter keinen Umständen verwendet werden. Und letzte Woche räumte US-Präsident Joe Biden die „reale“ Gefahr ein, dass Russland taktische Nuklearwaffen einsetzen könnte.

Die Welt wäre ein gefährlicherer Ort

Ein solcher Atomschlag würde die Welt zu einem erheblich gefährlicheren Ort machen – insbesondere wenn Putin damit durchkommt. Sollte der Westen der russischen Nuklearerpressung nachgeben, wären – in Moldawien und anderswo – weitere Angriffe zu erwarten.

Der Krieg in der Ukraine hat nicht nur das Gespenst der Auflösung Russlands entfesselt, sondern auch das einer drohenden nuklearen Konfrontation ähnlich der kubanischen Raketenkrise von 1962 – die möglicherweise nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Unter diesen Bedingungen muss der Westen alle Möglichkeiten nutzen, um die Temperatur des innenpolitischen Diskurses in Russland und die Stärke des russischen „Nuklearfiebers“ einschätzen zu können.

Natürlich kann in Russland, wie Prigoschins Aufstand zeigt, alles passieren. Und wie die Kremlinologen des Kalten Kriegs nach Jahrzehnten der Kaffeesatzleserei gelernt haben, kann unmöglich gesagt werden, ob öffentliche Aussagen und Debatten auch einen neuen Konsens der politischen und militärischen Eliten des Landes widerspiegeln. Aber es steht zu viel auf dem Spiel, um es nicht zu versuchen.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff, Copyright: Project Syndicate, 2023. www.project-syndicate.org

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Gastkommentare und Beiträge von externen Autoren müssen nicht der Meinung der Redaktion entsprechen.

>>> Mehr aus der Rubrik „Gastkommentare“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.03.2023)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.