Quergeschrieben

Grammatikauffrischungsimpfungen auf dem Deutschmarkt

175 Jahre nach ihrer Gründung ist „Die Presse“ immer noch Österreichs Tageszeitung mit dem größten Horizont – und dem breitesten Meinungsspektrum.

So analysierte der Biologe Thomas Jakl, stellvertretender Sektionsleiter im Umweltministerium, in einem Gastkommentar konservative Ängste und Scheinheiligkeiten in Sachen Klimawandel und Flüchtlings-, präziser gesagt: Asylpolitik. Er mokierte sich auch über die „peinliche Larmoyanz“ all jener, die nicht rechts verortet werden wollen, weil sie dem Gendern nichts abgewinnen können: Wer sich einer geschlechtergerechten Ausdrucksweise verschließe, dürfe Jakls Meinung nach Begriffe wie „modern“, „tolerant“ oder „weltoffen“ nicht für sich reklamieren: „Man kann nicht zugleich Macho sein und von allen lieb gehabt werden wollen. Sorry.“

Ja, sorry zurück. So geht Mundtotmachen. Denn tatsächlich bekritteln nicht nur rechte Machos Asterisk, Wokismus, Cancel Culture oder sektiererische Identitätspolitik als Haar- und Gesellschaftsspalterei. Just ein paar Tage vor Jakls Gastkommentar zitierte Leserbriefschreiber Wolfgang Lampert dankenswerterweise aus der durchgegenderten Ärztekammer-Homepage, wonach „ein*e Fachärzt*in“ mit Kassenverträgen nur durch „eine*n Fachärzt*in“ des entsprechenden Sonderfaches vertreten werden könne: „Eine Vertretung durch eine*n Ärzt*in für Allgemeinmedizin bzw. eine*n Ärzt*in in Fachärzt*innenausbildung – auch nicht im letzten Jahr der Fachärzt*innenausbildung – ist nicht zulässig. Ein*e Ärzt*in für Allgemeinmedizin darf ebenfalls nur durch eine*n andere*n Ärzt*in für Allgemeinmedizin vertreten werden.“ Neue Berufsgruppe: Der Ärzt? Der Fachärzt? Kommen demnächst – nicht nur – für ärztekämmerliche Sprachakrobaten (m/w/*) wirksame Grammatikauffrischungsimpfungen auf den Deutschmarkt? Egal, ob lechts oder rinks: Leicht verständlich ist dergleichen Schwurbel nicht – und zwar nicht nur für jene 40 Prozent der hiesigen Schülerinnen und Schüler, die am Ende ihrer Schulpflicht nicht sinnerfassend lesen können. Schon den Viertklässlern in den Volksschulen stellt die jüngste Pirl-Studie (Progress in International Reading Literacy) ein mickriges Zeugnis aus: Jedes fünfte Kind schwächelt beim Lesen, Buben mehr als Mädchen.

Nivellierung nach unten aus falsch verstandener Solidarität scheint jedenfalls keine zukunftsträchtige Lösung zu sein. Auch teure Privatschulen sind es nicht. Dann wäre gute Bildung vom Vermögensstand der Eltern abhängig. Öffentliche Gymnasien stehen Kindern aus allen sozialen Schichten offen. Voraussetzung: Lernbereitschaft und Wissbegierde. Als ich zu Kreiskys besten Zeiten in die Schule ging, gab es in meinem Heimatort nur Volks- und Hauptschule. Ich aber wollte unbedingt ins Gymnasium. Hieß: Um 5:45 Uhr aufstehen, um 6:30 ab in den Bus. Hin und zurück war ich täglich zwei Stunden unterwegs. Nur zwei oder drei aus meiner Volksschulklasse haben das auch gemacht. Die anderen waren nicht weniger klug, doch ihnen oder ihren Eltern schien die Fahrerei zu strapaziös. Und für Bergbauernkinder, die sowieso schon einen langen Schulweg hatten, war das Gymnasium damals praktisch unerreichbar: Sie wären nicht zwei, sondern vier Stunden täglich im Bus gesessen. Heute gibt es in meinem Heimatort Gymnasien, Handelsschule und -akademie und Fachhochschulen. Wer will, kann lernen. Auch deutsche Grammatik.

Viele, längst nicht alle, der leseschwachen Jugendlichen stammen aus migrantischen Milieus. Gendern macht ihnen den Spracherwerb nicht leichter. Nachhaltiger und inklusiver wäre es, Alt- und Jungösterreicher (m/w/*) damit vertraut zu machen, dass grammatisches und biologisches Geschlecht zweierlei sind. Wer aber in Kauf nimmt, dass Jugendlichen oder neu zugewanderten Menschen auch künftig spanisch vorkommt, was und wie in genderbesorgten Blasen gesprochen und geschrieben wird, besträußle seine Texte weiterhin mit Sternderln und Unterstrichen. Wundere sich dann aber nicht über wenig erfreuliche Pisa- und Pirl-Tests.
E-Mails: debatte@diepresse.com

»Schon den Viertklässlern in den Volksschulen stellte jüngst eine Studie ein mickriges Zeugnis aus: Jedes fünfte Kind schwächelt beim Lesen.«

Zur Autorin:
Dr. Andrea Schurian ist freie Journalistin. Die ehemalige ORF-Moderation („Kunststücke“, „ZiB Kultur“) gestaltete zahlreiche filmische Künstlerporträts und leitete zuletzt neun Jahre das Kulturessort der Tageszeitung „Der Standard“. Seit Jänner 2018 ist sie Chefredakteurin der jüdischen Zeitschrift „Nu“.

Morgen in „Quergeschrieben“:
Rosemarie Schwaiger

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.