Zeichen der Zeit

Wärst du doch der alte Besen!

Im „Standardnetzwerk“ des Gehirns geht ohne Emotionen gar nichts. 
Im „Standardnetzwerk“ des Gehirns geht ohne Emotionen gar nichts. Foto: Martial Trezzini
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Wer Dialoge mit sprachbegabten KI-Systemen führt, wird irgendwann feststellen, dass das Ich einer generativen KI eher über jene beige Persönlichkeit verfügt, die man aus Aufklärungsvideos über richtiges Zähneputzen kennt. Das Ich von Chat GPT und Co. ist eine Sprachkonvention.

Schriftlichkeit ist das kommunikative Fundament moderner Zivilisationen. Das Buch mit dem Wort Gottes, der Text der Verfassung, die Bestimmungen des Vertrags, das Zeugnis der dritten Klasse, Hannah Arendts Arbeit über totale Herrschaft, die Anklage gegen Josef Fritzl, die Beauftragung für die Sanierung der Umfahrung St. Zellrein, die Notiz der Geliebten auf der Tür des Kühlschranks, das Posting der Wasserschutzbeauftragten: Sie alle bestimmen ihre Autorinnen und Autoren als begehrende Wesen, die werden und vergehen und die über die unmittelbare Anwesenheit hinaus mit ihren Interessen wirksam bleiben wollen. „Wer schreibt, der bleibt“, lautet eine alte Bürokratenweisheit, die Subjekt und Transzendenz der Schriftlichkeit lapidar zusammenfasst.

In dieser Disziplin gibt es neuerdings mächtige Konkurrenz. Generative künstliche Intelligenz hat 2023 einen kometenhaften Aufstieg zum Superstar unter den Autoren geschafft. Trainiert mit dem Datenschatz des Internets und angetrieben mit der Rechenleistung von mehr als 28.000 Rechenkernen, wurde Chat GPT binnen weniger Monate zum Symbol eines neuen Megatrends der IT-Industrie, der die Welt mit ähnlicher Wucht verändern könnte wie die Erfindung des Buchdrucks.

Zeugnischarakter der Schrift

Dabei galt der „Tod des Autors“ seit dem Ende der Sechzigerjahre in der Theorie als ausgemachte Sache: Mit einem Textverständnis, das sich lediglich auf die gedachten Absichten seiner Autorenschaft berufen möchte, war es nach den Theorien von Roland Barthes, Umberto Eco und Michel Foucault vorbei. An den Praktiken der Schriftlichkeit unserer Wirtschafts- und Rechtsbeziehungen änderte das jedoch noch wenig – bis jetzt. Wenn sich KI-Systeme ab sofort gleichberechtigt (und undeklariert) an der Textproduktion beteiligen, entfällt der Zeugnischarakter der Schrift. Mit KI-Werkzeugen als (Co-)Autoren gibt es weder Fälschung noch Original, weder Übersetzung noch Interpretation, weder Kontext noch Quellen noch Adressaten. Schließlich schreiben KI-Systeme nicht nur, sondern lesen auch, zum Beispiel, um Internetsuchergebnisse zu verbessern oder Versicherungsprämien zu kalkulieren. Der resultierende Text ist ein Produkt ohne Produzenten. „Autorenschaft“ als Königsdisziplin weltlicher Autorität ist damit Geschichte.

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