Gastkommentar

Hitlers Bombe und die Warnung aus Wien

Peter Kufner
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Geschichte. Das Epos „Oppenheimer“ inspiriert zu einem weiteren Filmstoff: Hans Thirrings Warnbrief vor der Atombombe an Albert Einstein.

Mit dem „Oppenheimer“-Film gewinnt der legendäre Brief Albert Einsteins an den US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt weiter an welthistorischem Status. Im Sommer des Jahres 1939, nur Wochen vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, warnt er vor der Gefahr, dass Nazi-Deutschland als erster Staat eine Atombombe herstellen könnte.

Nur ein halbes Jahr zuvor hatte Otto Hahn in Berlin erstmals Uranatome gespalten. In Physikinstituten kursierte ein Albtraum: Kernwaffen in Hitlers Hand.

Dem ungarischen Emigranten Leó Szilárd kam die Idee, das Prestige Albert Einsteins zu nutzen, um das Weiße Haus aufzurütteln. Der Text des berühmten Briefs geht auf Szilárd zurück.

Hans Thirring, von den Nazis zwangsbeurlaubter Ordinarius für theoretische Physik an der Universität Wien, kam – völlig unabhängig – auf die gleiche Idee: Auch er wollte den Weg über Einstein wählen, um Amerika vor einem deutschen Atomprojekt zu warnen. Bloß, wie Einstein in Princeton erreichen? Die Gestapo scherte sich wenig um das Briefgeheimnis. Da fasste Thirring den Plan, Kurt Gödel die Nachricht an Einstein anzuvertrauen, als Kurier.

Der Kurier des Hans Thirring

Gödel, damals dreiunddreißig, galt bereits als „der größte Logiker seit Aristoteles“. Doch zunächst hatte Gödel Physik inskribiert, 1924 an der Universität Wien, und bei Thirring studiert. Damals war die Relativitätstheorie in aller Munde gewesen, und Thirring hatte eine wichtige Folgerung daraus abgeleitet. Eine Kugel, die rotiert (wie etwa der Erdball), besitzt ein etwas anderes Schwerefeld als eine Kugel, die stillsteht.

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Thirring war ein höchst beliebter Professor, gutaussehend, sportlich, ideenreich. Unter anderem ließ er ein Tonfilmsystem und einen Schwebemantel für Skifahrer patentieren. Er stand dem Wiener Kreis nahe, was ihn nicht hinderte, sich auch mit Parapsychologie zu befassen. Zur „Forschernatur“, so Thirring, gehöre die Bereitschaft, gegen den Strom zu schwimmen. Übrigens auch politisch: Als einer von wenigen trat Thirring entschlossen gegen die Nazi-Studentenschaft auf. Die konnte ihm zwar keine jüdische Herkunft unterstellen, aber egal: Die Hochschulen gehörten gesäubert, auch von der Relativitätstheorie.

Kurt Gödel, das stillste Mitglied des Wiener Kreises, hatte mit 25 Jahren bewiesen, dass Mathematik mit formalen Systemen nicht auszuschöpfen ist. Heute würde man sagen: dass kein Computerprogramm die Mathematik vollständig abdecken kann. Aber Computer entstanden erst im Anschluss an Gödel, als Turing formale Systeme auf Automaten übertrug.

Gödel wurde ans Institute for Advanced Study eingeladen, wo er Albert Einstein tief beeindruckte, und pendelte fortan, trotz der steigenden politischen Spannungen, zwischen Princeton und Wien, mit Unterbrechungen durch Aufenthalte in Nervenkliniken. Er litt an Verfolgungsängsten.

Im Sommer 1939 kehrte Gödel ins annektierte Österreich zurück, um seine Frau, Adele, nach Amerika zu holen. Für Thirring bot sich die Chance, Einstein von dem NS-Atomprogramm zu informieren.

Doch Thirrings Plan stand unter einem Unstern. Eine Lawine bürokratischer Schikanen verzögerte die Ausreise der Gödels um vier Monate. Erst im Jänner 1940 konnte es losgehen. Freilich, inzwischen gab’s Krieg.

Amerika war noch neutral, der Atlantik allerdings Kampfzone. Also anders herum, über Sibirien und den Pazifik? Es schien nicht unmöglich. Die Sowjetunion und Japan führten zwar auch Krieg, aber weder gegen Deutschland noch die USA noch gegeneinander.

Gödel versagte als Bote total

In langen Winternächten fuhr die Transsibirische Eisenbahn eine Riesenverspätung ein, und in Yokohama verpassten die Gödels ihr Schiff. Aber schließlich, nach sechswöchiger Reise, die Ankunft in Princeton und das Treffen mit Einstein! Trotz aller Verzögerungen hatte Thirrings geheime Nachricht ihr Ziel erreicht.

Aber nicht ganz: Denn Gödel versagte in seiner Rolle als Bote total.

Er schrieb es Thirring erst ein halbes Menschenleben später. Gödel hatte die Warnung vor Hitlers Atombombe nicht weitergegeben und Einstein lediglich Grüße von Thirring ausgerichtet. Die schleierhafte Begründung: Er, Gödel, habe geglaubt, dass die Herstellung einer Kettenreaktion erst „gegen Ende unserer Kulturperiode“ erfolgen werde, was „vermutlich noch in weiter Zukunft“ liege. 

Wie mochte Thirring das aufgenommen haben? – Er war seit dem Krieg wieder in Amt und Würden, mit musterhafter Vergangenheit, wurde SPÖ-Abgeordneter im Bundesrat und verschrieb sich der atomaren Abrüstung. Als er allerdings die Abschaffung des Bundesheers forderte, kannte die Empörung keine Grenzen. Doch Thirring hatte nie Angst gehabt, gegen den Strom zu schwimmen. Ihn plagte etwas ganz anderes.

Einsteins Brief war publik

Der Brief Einsteins an Roosevelt war inzwischen publik geworden und galt als Auslöser des US-Atomprojekts. Thirring, ein Pazifist reinsten Wassers, sah sich als Glied in der Kette, die zu dem Horror von Hiroshima und Nagasaki geführt hatte, und litt Gewissensqualen – bis er, knapp vor dem Tod, von Gödel die Wahrheit erfuhr. 

Der Stoff mag nicht für einen Hollywood-Blockbuster taugen, doch für einen Autorenfilm allemal. Ich sehe den Streifen deutlich vor mir, im Stil eines frühen Hitchcock, schwarz-weiß und hochgradig paranoid: Jeder Passant verdächtig, jeder Blick suspekt, jedes Wort doppelbödig. In den Hauptrollen: der idealistische Thirring als Lichtgestalt (Typ Paul Newman); der joviale Übervater Einstein als komischer Alter (Walter Matthau natürlich); der weltfremde Gödel zwischen Genie und Wahnsinn (eine Paraderolle für Antony Perkins); und Adele, eine ehemalige Kabaretttänzerin, verschlagen in eine ihr vollkommen fremde Welt (Birgit Minichmayr).

Treffen in einem Wiener Café

Das Drehbuch schreibt sich von selbst. Zunächst das konspirative Treffen zwischen Thirring und Gödel in einem Wiener Café (ich denke an das Weimar). Die kafkaesken NS-Bürokraten. Die vielen Spitzel, vermeintlich und echt. Die Passkontrollen an den Grenzübertritten, mit ominösen Truppentransporten im Hintergrund. Gödel bei dem hektisch-nervösen Versuch, seine logischen Notizbücher unauffällig zu vernichten. Die schicksalsergebene Adele, frierend auf vereistem Perron in Irkutsk, bräunend auf dem Sonnendeck vor der Küste Hawaiis.

Als finale Beschleunigung die Bahnfahrt durch einen weiteren Kontinent, diesmal im eleganten Pullman-Waggon; das Tempo rastlos vorangetrieben durch die Geheimbotschaft, die möglicherweise die Welt retten wird (Hitchcock hat derlei als McGuffin bezeichnet).

Dann endlich das Treffen mit Einstein. Zuletzt Gödels Aussetzer: ein beiläufiger Gruß, weiter nichts. Abspann. Im Sall wird es wieder hell.

Die Warnung Thirrings kam also nie an. Aber zum Glück war es mit Hitlers Atombombe auch nicht recht weiter gediehen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Der Autor

Karl Sigmund (*1945) ist Mitglied des Filmmuseums und emeritierter Mathematik-Professor an der Universität Wien.

Beigestellt.

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