Trilogie: Ulrich Seidl hat das Paradies längst gefunden

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Disziplinierung im Diätcamp: Die Diagonale in Graz eröffnet am Dienstag mit "Paradies: Hoffnung" dem Abschluss von Ulrich Seidls großer Trilogie. Ab Freitag in den heimischen Kinos.

Dort, wo man Grausamkeit erwartet, haust die Zärtlichkeit. Jetzt, da Ulrich Seidls „Paradies“-Trilogie mit der „Hoffnung“ endet und in ausgewählten Kinostationen auch als Komplettstück angesehen werden kann, darf man es ja sagen: Diese Filme sprechen miteinander.

Aber nicht in der Art, wie es Hollywood-Formalisten in Episodenstruktur vorexerziert haben, sondern auf einer tieferen, einer subkutanen Ebene. Es spiegeln sich Körper, Lebenskonzepte, Gefühle, aber natürlich auch Bildeinstellungen, Handlungsmuster und Raumkonzepte in „Liebe“, „Glaube“ und „Hoffnung“. Dass die drei Hauptfiguren der Filme (Mutter, Schwester, Tochter) verwandt sind, ist nur ein Scharnier. Ihre Leben, entworfen als Sehnsuchtsreisen mit der für Ulrich Seidl typischen Lust am konkreten Bild, stehen stellvertretend für den Menschen an sich, sind abgesetzt von den erst so essenziell erscheinenden Themenfeldern Sextourismus, Religion und Schlankheitswahn.

Spaß an körperlicher Ertüchtigung lernen

Letzterer liefert den Aufhänger für „Paradies: Hoffnung“: Die 13-jährige Melanie (eine Entdeckung: Melanie Lenz) wird von ihrer Tante (Kurzauftritt: Maria Hofstätter) in ein Diätcamp gebracht. Dort soll das mollige Mädchen in zwei Wochen lernen, sich gesund zu ernähren und Spaß an körperlicher Ertüchtigung zu haben. Das Kino von Ulrich Seidl ist weise, aber nicht im lehrerhaften Sinn, sondern weil es sich aus gelebten Leben zusammensetzt. Die Wahrhaftigkeit, die er in den Gesichtern, Körpern und Gefühlen von Laiendarstellerinnen wie Melanie Lenz oder der umwerfenden Verena Lehbauer (Casting: Eva Roth) findet, lässt sich nicht reproduzieren, schon gar nicht nachspielen.

Wie sie sich vor der Sprossenwand in der Turnhalle, wo alles nach Schweiß und Verzweiflung riecht, aufstellen und vom Trainer (gewaltig: Michael Thomas) durchzählen lassen müssen; wie sie dann im Kreis um ihn laufen, während er eine imaginäre Peitsche auf ihre Leiber schnalzen lässt, als wären sie Lipizzaner; wie sie mit der Ernährungsberaterin auf einer Wiese stehend „If you happy and you know it, clap your fat!“ singen und sich dabei abwechselnd auf Oberschenkel, Bauch und Hintern klatschen: In all diesen Szenen geht es darum, wie junge Menschen in eine Normgesellschaft eingepasst werden sollen. In all diesen Momenten ist man ganz bei den Jugendlichen: nicht aus Mitleid oder weil man berührt ist, sondern weil man über die klaren Tableaus und die präzise Figurenarbeit instinktiv versteht, dass da ein System versucht, dem Menschen das Menschsein auszutreiben. Das gelingt natürlich nicht, dafür ist die Jugend zu stark.

Immer wieder zeigt „Hoffnung“ sie alleine, ohne Wachhunde, Aufseher, Ernährungsberater. Dann schleichen sie sich am Abend in die Großküche und stibitzen Schokoriegel; dann laden die Mädchen die Burschen zu sich ins Mehrbettzimmer ein; dann werden Flaschen gedreht und verschämte Küsse ausgetauscht, dann wird getanzt, getrunken und geraucht. Melanie hat aber noch eine ganz andere Hoffnung: Sie ist in den Camp-Arzt (Joseph Lorenz) verliebt.

Seidls offenster und luftigster Film

Der ist ein fescher Mann jenseits der 50, fühlt sich von den Avancen des Mädchens geschmeichelt, bleibt aber Respekts- und Autoritätsfigur. Wie der Körper beim Training werden auch die Gefühle diszipliniert und eingepeitscht. „Paradies: Hoffnung“ ist Ulrich Seidls offenster und luftigster Film geworden: Den geometrisch geordneten Körperertüchtigungen und Disziplinierungen stehen die ungeordneten Gefühle der Heranwachsenden gegenüber, die mit viel Lust und Energie Regeln unterwandern und über die Stränge schlagen. Wenn man so will, zeigt „Paradies“, dass menschliche Gefühle nicht verwaltet und schon gar nicht kontrolliert werden können, dass alle Lebensglückideen falsche Fährten sind. Das lernen die Protagonistinnen von „Liebe“, „Glaube“ und „Hoffnung“.

Am Ende lockt aber noch eine andere Erkenntnis, ein leises, leichtes Säuseln, ein kaum hörbares Aufatmen, das sich wie ein roter Faden durch das Triptychon zieht: dass nämlich trotz aller spätkapitalistischen Knechtschaft, spirituellen Unterordnung und emotionalen Verzweiflung das eigentliche Paradies längst gefunden wurde, dass es im Scheitern, in der Enttäuschung, in der Verletzung liegt. Dort findet der Mensch zu sich selbst, ist er am wahrhaftigsten. So erklärt sich auch die schönste und bedrückendste Szene in „Hoffnung“: Der Arzt hat Melanie aus einer Dorfdisco geholt, fährt in den Wald und legt sie auf den feuchten Boden. In den Ästen hängt Nebel. Dann beugt sich der ältere Herr über das durch zu viel Alkohol bewusstlose Mädchen und riecht an ihr. Ein Moment reinen Glücks, ein kleines Paradies, irgendwo in Österreich, mitten in der Welt.

Diagonale: Preis für Hofstätter

Das österreichische Filmfest Diagonale wird heute Abend in Graz mit „Paradies: Hoffnung“ eröffnet. Dabei wird der Große Diagonale-Schauspielpreis an Maria Hofstätter, zuletzt Hauptdarstellerin von Ulrich Seidls „Paradies: Glaube“, verliehen. Das Festival zeigt erstmals hierzulande die ganze „Paradies“-Trilogie, bis 17.3. laufen in Graz 156 Filme und Videos, Spezialprogramme gelten u.a. Paul Czinner und Dominik Graf, der auch als Gast anreist.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.03.2013)

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