„Ich war 1234/XX“

Der belgische Rechtsanwalt Simon Gronowski sprang vor 70 Jahren als Bub aus dem Todeszug, der ihn nach Auschwitz bringen sollte. Heute engagiert er sich für die Versöhnung. Ein Gespräch.

Die Presse: Herr Gronowski, außerhalb Belgiens ist Ihre Geschichte fast gänzlich unbekannt, dabei ist sie schier unfassbar: Sie sind 1943 als Bub vom einzigen Todeszug nach Auschwitz gesprungen, der von Widerstandskämpfern überfallen wurde. Wie oft haben Sie das schon erzählt?

Simon Gronowski: Dreihundertmal. In Schulen, vor Studenten, in Belgien auf Flämisch und auf Französisch, und ich wurde nach Wuppertal, Köln und Witten eingeladen. Dort habe ich gesagt: Meine Damen und Herren, ich, ein Kind der Shoa, überbringe dem deutschen Volk, der deutschen Jugend, meine Freundesbotschaft.


Erzählen Sie uns Ihre Geschichte trotzdem noch einmal?

Die Nazis haben meine Mutter und meine Schwester in der Gaskammer von Auschwitz-Birkenau getötet. Mein Vater wurde darum sehr depressiv und starb im Juli 1945. Und ich selbst wurde mit elfeinhalb Jahren von der Gestapo verhaftet, in den Keller des Gestapo-Gefängnisses in der Avenue Louise geworfen und in die Dossin-Kaserne in Mechelen transportiert. Das war am 17.März 1943. Bei unserer Verhaftung saßen wir gerade am Mittagstisch, meine Schwester hatte mir Marmeladebrote gestrichen, da läutete es. Zwei Gestapo-Männer traten ein, sagten bloß: „Papiere.“ Meine Mutter wurde kreidebleich. Wir waren denunziert worden. Bis heute weiß ich nicht, von wem. Die Gestapo-Männer sagten, wir sollten packen, wir würden in die Dossin-Kaserne gebracht. „Der Kleine auch?“, fragte meine Mutter. „Ja, er auch“, sagten sie. Der Winter 1942/43 war sehr hart; am Tag unserer Verhaftung schien aber die Sonne. Meine Schwester blickte hinaus und sagte: „Schau, Simon, die Sonne scheint – aber nicht für uns.“

Wie ging es Ihrer Familie in Belgien bis dahin?

Mein Vater hatte es sehr schwer. Er arbeitete zunächst in einem Kohlebergwerk der Wallonie. Dort fing er sich eine Lungenkrankheit ein. Also hat er in Brüssel ein Lederwarengeschäft eröffnet. Das lief gut. Meine Schwester kam 1924 in Lüttich zur Welt, ich wurde 1931 in Brüssel geboren. Meine Schwester, Ita, war Klassenbeste im Gymnasium in Latein und Griechisch. Aber vor allem war sie eine große klassische Pianistin.

Und Sie?

Ich war ein kleiner Wölfling. Ein Pfadfinder. Das war mein Leben. Ich liebte das, hatte einen Haufen Freunde. Wir waren eine kleine, einfache, aber glückliche Familie. Und dann kam Hitler.

Erzählen Sie uns von der SS-Kaserne Dossin, in die Sie zunächst deportiert wurden.

Als wir in der Dossin-Kaserne ankamen, wussten wir nicht, dass wir zum Tode verurteilt waren. In dem Monat dort haben wir kein einziges Mal den Namen „Auschwitz-Birkenau“ gehört. Ich bekam ein Kartonschild umgehängt, auf dem die Nummer 1234/XX stand. Das bedeutete: Ich war der 1234. zu Deportierende des nächsten, des 20. Zugs nach Auschwitz.

Was geschah in der Nacht auf den 20. April 1943, der Nacht Ihrer Deportation?

Ich hatte gehört, dass einige Leute es geschafft hatten, vom 19. Transport zu springen. Da sagte ich mir: Das ist meine einzige Chance. Für die Nazis war man bis 16 ein Kind. Nur wenn man älter war, wurde man als Zwangsarbeiter eingesetzt. Wäre ich also in Auschwitz angekommen, hätte es für mich sofort Gaskammer geheißen. Und so trainierte ich, von den dreistöckigen Stockbetten zu springen, in denen wir schliefen.

Und dann fuhr der Zug los.

Wir waren zu 50 in einen Viehwaggon eingesperrt, nur mit ein bisschen Stroh auf dem Boden. Es war Nacht, finster. Und auf einmal hörte ich Schüsse und Schreie. Das war der Angriff der drei Jungen in Bortmeerbeek.

Youra Livchitz, Jean Franklemon und Robert Maistriau: Sie waren einzig mit einem Revolver bewaffnet aus Brüssel gut 20 Kilometer nach Bortmeerbeek geradelt, wo sie den Zug mit einer roten Laterne anhielten.

Maistriau öffnete den ersten Waggon, und 17 Leute konnten flüchten. Dann fuhr der Zug weiter, und ich schlief in den Armen meiner Mutter ein. Aber ich hatte das Gefühl, dass einige Männer, ermutigt durch den Überfall, in meinem Waggon begonnen hatten, die Tür aufzubrechen. 50 Kilometer später, im Limburg, hinter Sint-Truiden, weckte mich meine Mutter. Ich spürte die frische Luft, hörte den Lärm der Räder. Die Tür stand offen. Meine Mutter stellte mich vorsichtig auf die Leiter. Dann wurde der Zug plötzlich langsamer, und ich sprang. Der Zug blieb stehen. Mehrere Schutzpolizisten liefen umher, schossen um sich. Ich wartete auf meine Mutter. Aber sie konnte jetzt natürlich nicht nachkommen.

Und so sind Sie losgelaufen.

Ich lief die ganze Nacht lang und summte „In the mood“ von Glenn Miller vor mich hin. Dann erreichte ich ein Dorf. Ich klopfte an die erste Tür und sagte: Madame, ich habe mich beim Spielen mit meinen Freunden im Wald verirrt und muss zu meinem Vater nach Brüssel. Das war natürlich unglaubwürdig: Was tat ein kleiner Französischsprachiger mitten in der Nacht in zerrissenen Kleidern mitten in Flandern, 80 Kilometer von Brüssel entfernt? Die Frau brachte mich zu einem anderen Haus, in ein Wohnzimmer. Dort sah ich einen Mann in Uniform, mit Revolver: einen Gendarmen. Eine wahnsinnige Angst überfiel mich: Der bringt mich jetzt sicher zur Gestapo! Aber der Mann sagt nur: Ich weiß alles. Du bist vom Zug mit den Juden gesprungen, die man nach Deutschland brachte. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin ein guter Belgier. Ich werde dich nicht verpfeifen. Dieser Gendarm war ein Held. Wenn die Nazis erfahren hätten, dass ein belgischer Gendarm einen Juden gerettet hat, wäre er erschossen worden.

Wie hieß er?

Jean Aerts. Er gab mir zu essen, ließ mir ein Bad ein und steckte mich in einen Anzug seines Sohnes. Dann brachte er mich zum Zug nach Brüssel. Dort kümmerten sich meine Pfadfinderfreunde um mich. Sie hatten schon bei unserer Verhaftung meinen Vater, der damals im Spital war, sofort bei einer katholischen Familie versteckt. Als sie mich zu ihm brachten, begann er, ein gläubiger Jude, zu beten und Gott zu danken, dass er ihm seinen Sohn zurückgegeben hatte. Da geschah etwas Unglaubliches: Die Frauen, die ihn und mich versteckten, fromme Katholikinnen, knieten nieder und beteten gemeinsam mit ihm. Ich verbrachte dann 17 Monate in einem Versteck, bis die Briten und Amerikaner Belgien befreiten. Am Tag meiner Flucht war ich genau elf Jahre, sechs Monate und sieben Tage alt. Das ist also meine Geschichte. Und 60 Jahre lang habe ich nicht über sie gesprochen.

Wieso nicht?

Nun, wenn ich ständig davon gesprochen hätte, wäre ich depressiv geworden. Zweitens fühlte ich mich schuldig: Warum sind sie tot, und ich lebe? Drittens war ich jung. Wenn ich meine Freunde traf, wollte ich mit ihnen nicht über solche Dinge reden. Und viertens waren die Leute nicht bereit, das zu hören.

Warum reden Sie jetzt?

Ich lege heute Zeugnis ab, weil es Menschen gibt, die sagen: Das ist alles nicht wahr. Es gab keine Gaskammern. Keine Massenmorde. Keine Verbrennungsöfen. Und ich wünschte, sie hätten recht. Dann hätte ich nämlich meine Familie noch. Diese Holocaustleugner sind gefährlich. Sie verneinen die vergangenen Kriegsverbrechen, weil sie neue begehen wollen. Ich rede auch, weil ich die Helden ehren will – allen voran meine Mutter. Denn sie brachte mich dazu zu springen, während sie im Waggon blieb. Und ich rede auch für die Opfer anderer Massenmorde. Jener in Ruanda, in Armenien. Ich sage nicht, dass der jüdische Genozid schwerer wiegt als der armenische. Man darf keine Massenmorde vergleichen. Sie sind alle verbrecherisch.

Jetzt bringen Sie ein neues Buch heraus.

Ja, weil ich eine fabelhafte Begegnung hatte. Mich rief ein junger Mann an und fragte: Sind Sie einverstanden, den Sohn eines Nazis zu treffen? Er heißt Koenrad Tinel. Ein flämischer Zeichner und Bildhauer. Wir trafen uns, und er sagte: Als ich Ihre Geschichte gelesen habe, musste ich weinen. Dann hat er mir seine Familiengeschichte erzählt. Und am Ende lagen wir einander in den Armen. Seine Geschichte ist schrecklich.

Wieso?

Sein Vater hat damals gesagt: Hitler ist Gottvater. Koen ist 1934 geboren, er hatte zwei große Brüder, einer 17, der andere 19 Jahre alt. Als Hitler Russland überfiel, sagte der Pfarrer in ihrer Kirche in Gent: Wäre ich an eurer Stelle, würde ich mich für die Waffen-SS melden. Ihre Lehrer in der Schule sagten das auch. Und auch ihr Vater. Der größere Bruder rückte also ein und verlor in der Schlacht um Berlin ein Bein. Der andere Bruder war zu jung, um in den Kampf zu ziehen. Also rückte er in den Wachzug ein, welcher die SS und die Gestapo unterstützte, und nahm an Razzien und Exekutionen von Juden teil. Er war zu der Zeit Wache in der Dossin-Kaserne, als ich dort eingesperrt war. Ich muss ihn dort gesehen haben.

Was muss man aus Ihren Erfahrungen lernen?

Dass man das andere kennenlernen muss. Und dass wir einander respektieren müssen. Das betrifft auch die Juden. 2005 wurde ich zum Präsidenten der belgischen Vereinigung der deportierten Juden gewählt. Die macht eigentlich nur eine einzige Sache, nämlich die jährliche Gedenkveranstaltung in der Dossin-Kaserne. Im ersten Jahr meiner Präsidentschaft habe ich einen Tutsi zu dieser Veranstaltung eingeladen, einen Überlebenden des Völkermordes in Ruanda. Wissen Sie, wie viele Leute mir das übel genommen haben? Im Jahr darauf wollte ich einen Armenier einladen. Das haben sie mir verboten. Denn Mechelen, das sind nur wir! Man darf unseren Genozid nicht mit dem Genozid anderer vermischen! Da habe ich geantwortet: Gut, bleibt unter euch, ich gehe. Und ich bin zurückgetreten. Denn die Juden müssen den Schmerz der anderen zur Kenntnis nehmen. Sie haben kein Monopol auf den Schmerz.

Das kann aber nur jemand wie Sie sagen.

Mag sein. Aber ich sage es. Viele der Überlebenden der Lager leben ihren Opferstatus und für nichts anderes mehr. Dank der Begegnung mit Koen und seiner Familiengeschichte fühle ich mich endlich nicht mehr als Opfer. Ich finde das Leben jetzt schön. Übrigens haben Sie mir eine Frage nicht gestellt, die mir sonst ständig gestellt wird.

Welche?

Die nach der Lage in Palästina: Wie können die Juden, ein Volk, das so viel gelitten hat, ein anderes Volk leiden lassen? Aber darauf antworte ich nicht. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.