Beteiligen sich linke „Orwellianer“ an der französischen Bewegung gegen die gleichgeschlechtliche Ehe? Oder ist das nur ein rechtes Täuschmanöver?
Zwei Fäuste, eine blau, eine rot, dazwischen eine weiße Kinderfaust: Unter diesem Banner marschiert der „Printemps français“, der „Französische Frühling“, eine der größten Protestorganisationen im Streit gegen die Homo-Ehe. Ihr Name spielt auf den Freiheitsdrang des Arabischen Frühlings an, die Fäuste im Logo weisen nach oben, in den Köpfen der Betrachter aber nach links: nicht nur, weil die gereckte Faust ein Kommunistensymbol ist. Der angefügte Slogan „On ne lâche rien“ („Wir geben nicht auf“) diente der Linksallianz „Front de gauche“ als Wahlkampfslogan. Auch kämpferisch antikapitalistisch gibt sich die Website. Linke gegen die Homo-Ehe?
In Cannes, wo am Sonntag „La Vie d'Adèle“ die Goldene Palme gewann, sicher nicht. Auch am Grund der Texte des „Französischen Frühlings“ findet man nur alte rechte bis rechtsrechte Denkmuster. Trotzdem behauptet die Philosophin Chantal Delsol in „Le Monde“, dass die heftigen Proteste der vergangenen Monate (siehe Bericht, S.4) nicht nur eine rechtskatholische Angelegenheit seien, sondern auch die Geburtsstunde einer konservativen Linken.
Delsol nennt sie „Orwellianer“ nach George Orwell, der überzeugter Linker war, aber in seinen Romanen „Die Farm der Tiere“ und „1984“ Stalinismus und Totalitarismus geißelte. Es seien ehemalige 68er und „freie Geister“, die sich vom „prometheischen“ Fortschrittsdenken verabschiedet hätten. Sie seien für eine „Ökologie des Menschen“, für Vorsicht nicht nur in unserem Umgang mit der Natur, sondern auch im Umgang mit uns selbst und gesellschaftlichen Reformen.
Die These klingt interessant, allerdings gibt es null Beweise. Beweisbar dagegen ist, dass die Protestbewegungen gegen die Homo-Ehe alles getan haben, um ihre Deuter und vielleicht auch diese Philosophin in die Irre zu führen. Systematisch wurden traditionell „linke“ Begriffe wie die „Résistance“ oder Nonkonformismus übernommen und ideologisch umgedreht. „Manif pour tous“ („Demo für alle“) nennt sich eine der wichtigsten Organisationen, als Gegenbegriff zur „mariage pour tous“, zur „Ehe für alle“. Man feierte die Freiheit, sich als Bürger gegen die Regierung zu erheben, ein Student berief sich auf die Französische Revolution: „Verletzt die Regierung die Rechte des Volkes, ist Erhebung heiligstes Recht.“ Vor allem aber wurden die Proteste als Neuauflage der Studentenrevolten unter umgekehrten Vorzeichen interpretiert: Sie seien „die größte soziale Bewegung seit Mai '68“, ein Gegen-Mai.
Begriffsusurpation ist ein altes Propagandainstrument, auch Neonazis operieren heute mit der Vereinnahmung linker Codes. Das kann die Zuhörer mindestens in die Irre führen. Die Unsicherheit, wie „breit“ die französischen Proteste zu deuten seien, ist das beste Beispiel dafür.
anne-catherine.simon@diepresse.com
("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2013)