1895: Die Degradation des Kapitäns Dreyfus

Verurteilung wegen Spionage: Der Korrespondent der „Neuen Freien Presse“ telegrafiert aus Paris.

[5. Jänner 1895] Die Degradation des Kapitäns Dreyfus versammelte an diesem trüben Wintermorgen viele Neugierige in der Umgebung der Kriegsschule, die hinter dem Bezirke der Ausstellung vom Jahre 1889 liegt. Man sah eine große Anzahl Offiziere, mehrere mit ihren Damen. Der Einlass in den Hof der ?cole militaire war nur Offizieren und wenigen Journalisten gestattet. Draußen harrte die Menge der Gaffer, die Hinrichtungen beizuwohnen pflegen. Es war viel Polizei aufgeboten worden. Um neun Uhr war der Riesenhof mit Truppenabteilungen, die ein Karree bildeten, gefüllt. Fünftausend Mann waren ausgerückt. In der Mitte hielt ein General zu Pferde. Einige Minuten nach neun wurde Dreyfus herausgeführt. Er trug die Hauptmannsuniform. Vier Mann führten ihn vor den General. Dieser sagte:  „Alfred Dreyfus, Sie sind unwürdig, die Waffe zu tragen. Im Namen des französischen Volkes degradiere ich Sie. Man vollziehe das Urteil.“

Da erhob Dreyfus die rechte Hand und rief: „Ich schwöre und erkläre, dass Sie einen Unschuldigen degradieren. Es lebe Frankreich!“ In demselben Augenblick wurden die Trommeln gerührt. Der militärische Gerichtsvollzieher begann, dem Verurteilten die Knöpfe und Schnüre, die schon vorher gelockert waren, von der Uniform herabzureißen. Dreyfus bewahrte eine ruhige Haltung. Nach wenigen Minuten war die Prozedur vollzogen.

Nun begann der Rundgang vor der Front der Truppe. Dreyfus schritt an dem Truppenspalier vorbei, wie ein Mann, der sich unschuldig fühlt. Er kam an einer Gruppe von Offizieren vorüber, die ihm zuschrien: „Judas! Verräter!“ Dreyfus rief zurück: „Ich verbiete, mich zu insultieren.“ Um neun Uhr zwanzig Minuten war der Rundgang beendet. Dreyfus wurde dann gefesselt und den Gendarmen übergeben. Von nun an wird er als Zivilgefangener behandelt. Nach seiner Abführung begannen die Truppen abzumarschieren. Die Menge aber lief vor den Toren zusammen, um die Wegführung des Sträflings zu sehen.

Theodor Herzl war von 1891 bis 1895 Korrespondent der „Neuen Freien Presse“ in Paris und arbeitete danach als Feuilletonist.

("Die Presse", 165 Jahre Jubiläumsausgabe, 29.06.2013)

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