Antikolonialismus auf Seite 1 ! Anatole France und „Die Presse“

Berühmter Korrespondent. Der spätere Literaturnobelpreisträger war bekannt wie Zola. Sein Text war revolutionär, ihn zu lesen ein österreichisches Privileg.

Den Literaturnobelpreis hatte er noch nicht. Aber Anatole France gehörte 1904 zu den berühmtesten französischen Schriftstellern seiner Zeit, speziell zu jenen, um die das Feuilleton der „Neuen Freien Presse“ Paris beneidete, und die es denn auch oft zu Wort kommen ließ: den freien Geistern, die der Gesellschaft ins Gewissen redeten. Der Mann mit dem markanten Spitzbart hatte in der Dreyfus-Affäre an der Seite Zolas gekämpft und sich aus konservativeren Anfängen zum überzeugten Linken mit humanitär-sozialistischen Idealen entwickelt.

Regelmäßiger „Courrier Viennois“

Ein Beitrag von Anatole France auf Seite 1 der „Presse“, noch dazu so revolutionär wie „Der Kolonialwahn“ – was aus heutiger Sicht wie ein rares Ruhmesblatt wirkt, war nicht so außergewöhnlich für die Zeitung. France war damals offizieller Korrespondent und schickte regelmäßig Artikel zu großen politischen Fragen unter der Rubrik „Courrier Viennois“.

Auch Stefan Zweig erinnert in seiner Autobiografie „Die Welt von gestern“ an ihn, wenn er sich an „das einzige publizistische Organ hohen Ranges, die ,Neue Freie Presse‘“ erinnert: „Die Feiertagsnummern zu Weihnachten und Neujahr stellten mit ihren literarischen Beilagen ganze Bände mit den größten Namen der Zeit dar“ – und als ersten Namen nennt Zweig noch vor Zola Anatole France.

Österreich hatte keine Kolonien

Sehr wohl etwas Besonderes für damalige Verhältnisse war der Inhalt. Ihn zu lesen, war ein österreichisches Privileg. In welcher großen französischen Zeitung hätte Anatole France wohl diesen revolutionären Text veröffentlichen können? In Österreich, das keine Kolonien hatte, waren freie Worte zur Politik der europäischen Kolonialmächte wohl leichter zu platzieren. Hat der Autor den Text auch in seiner Heimat veröffentlicht?

Offenbar nein, ergibt die Spurensuche in Frankreich, das Manuskript der französischen Fassung ist verloren, auch in Frankreich wird der Artikel in Rückübersetzungen aus der „Presse“ überliefert. Allerdings konnten seine Landsleute im Jahr darauf einen Teil des Textes in Buchform lesen. Denn Anatole France übernahm Passagen aus seinem Artikel wortwörtlich in seinem philosophischen Roman „Sur la pierre blanche“ („Auf dem weißen Felsen“). Das Buch gilt als Frances erste große Kolonialismuskritik – dass eine solche in Wahrheit schon ein Jahr davor in Wien erschienen ist, weiß in Frankreich kaum jemand.

Einer gegen den Mainstream

„Die Kolonialpolitik ist die neueste Form der Barbarei, oder, wenn man lieber will, die Form der Zivilisation.“ Heute klingt ein solcher Satz nach Mainstream, der Mainstream damals war dem diametral entgegengesetzt. Anatole France war ein Rufer in der Wüste, wie Mark Twain in den USA oder Joseph Conrad in England, zu einer Zeit, als der „Wettlauf um Afrika“ seinem Ende zusteuerte, weil die europäischen Kolonialmächte in den vergangenen Jahrzehnten so ziemlich den ganzen Kontinent untereinander aufgeteilt hatten.

Schlimmer noch, seine Gegner waren nicht einfach egoistische, moralisch indifferente Ausbeuter, sondern großteils (vorgeblich oder wirklich) überzeugt davon, auf der Seite der Guten zu stehen. Nicht nur in Frankreich war es weitgehend politischer Konsens, dass die Kolonialisierung den Kolonialisierten nütze. Diese würden so aus ihren eigenen chaotischen und gewalttätigen Verhältnissen, aus der Sklaverei und aus ihrer kulturellen und wirtschaftlichen „Rückständigkeit“ befreit, argumentierten zur gleichen Zeit wie Anatole France die meisten Intellektuellen. Besonders die Franzosen mit ihren republikanischen Idealen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verteidigten den Kolonialismus als Pflicht, den Menschen überall auf der Welt zu Gleichheit und Freiheit zu verhelfen – so pervers das heute klingt.

Adam Smith, der Antikolonialist

Interessant ist, dass der Moralist Anatole France erst gar nicht versucht, sich an Vorstellungen von rassischer Überlegenheit und dem Recht des Stärkeren abzuarbeiten. „Dass es in unseren Anschauungen und unserer Moral begründet ist, wenn die schwachen Völker von den starken vertilgt werden“, sei „eben das Prinzip des Völkerrechtes“. Stattdessen räumt er in „Der Kolonialwahn“ wirtschaftlichen Argumenten den größten Platz ein.

Vermutlich war ihm bewusst, dass nur der Eigennutz die Menschen zur Vernunft bringen würde. Er griff dabei zu einer alten These: Schon der Vordenker der freien Marktwirtschaft Adam Smith hat Ende des 18. Jahrhunderts die britische Kolonialpolitik kritisiert, weil sie ein wirtschaftliches Verlustgeschäft sei.

Es sollte noch lange dauern bis zur Entkolonialisierung, und die Hoffnungen, die France damit verband, wurden bitter enttäuscht. Bisher. In „Sur la pierre blanche“ entwirft der Autor die Utopie einer geeinten und gerechten Welt. Sie spielt im Jahr 2270.

("Die Presse", 165 Jahre Jubiläumsausgabe, 29.06.2013)

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