1956: „Wir wollen raus aus der Hölle und ihr kommt?"

Sowjetische Panzer in Budapest 1956
Sowjetische Panzer in Budapest 1956EPA
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Ungarnaufstand. „Presse"-Mitarbeiter Eugen-Gezá Pogány gelang es 1956 als erstem österreichischen Journalisten, sich zu den Aufständischen in Budapest durchzuschlagen. Er berichtete vom Aufbäumen gegen die Sowjet-Truppen.

28. OKTOBER 1956. Zur gleichen Zeit, als ich mich an meine Schreibmaschine setze, um den ersten Augenzeugenbericht aus jener Stadt zu geben, deren heldenhafte Jugendliche von der ganzen freien Welt bewundert werden, fahren gerade unter den Fenstern meines Hotelzimmers 20 bis 25 schwere sowjetische T-34 vorbei. Vom Süden her, aus der Richtung des großen Arbeiterviertels Csepel, hört man dumpfes Grollen. Kanonen. Keine 800 Meter von meinem Hotel entfernt Maschinengewehrsalven. Es ist knapp vor Mitternacht. Seit 18 Uhr herrscht strengstes Ausgehverbot. Vor einigen Minuten schlichen in der Straße, in der mein Hotel ist, an den geschlossenen Haustoren vorbei, eng an die Wand gedrückt, Jugendliche. Zivilisten mit Maschinenpistolen in der Hand. Aufständische.

Als ich mit zwei ausländischen Kollegen heute Mittag die ungarische Grenze bei Hegyeshalom passierte, hatten wir alle das gleiche Gefühl: das Überschreiten des „Rubikon". Wir wissen, dass wir vor Einbruch der Dunkelheit in Budapest sein müssen. Mein Ford-Taunus frisst die Kilometer. Wir passieren Straßensperren. Fast kein Verkehr. Soeben hat im Rundfunk Imre Nagy gesprochen, er will mit den Russen verhandeln, diese sollen friedlich aus Ungarn abziehen. Der Verkehr wird dichter, wir nähern uns Budapest. Panzer, Straßensperren. Russen, Ungarn. Man soll mich nicht nachträglich fragen, mit welcher diplomatischen Überredungskunst es gelang, diese Sperren zu passieren. Noch zwanzig, noch achtzehn, noch fünfzehn Kilometer, wir sind am Stadtrand. Wir haben es geschafft.

Wir hören die ersten Schüsse. Jetzt kann uns nichts mehr aufhalten. Wir haben die ganze Zeit während der Fahrt im Budapester Rundfunk die Aufrufe gehört, durch welche die Einwohner aufgefordert wurden, zu Hause zu bleiben. Niemand scheint Folge zu leisten. Die Häuser, arm und baufällig, tragen einen stolzen Schmuck: die rot-weiß-grüne Flagge. Bei vielen Fahnen klafft in der Mitte des weißen Streifens ein Loch: Das Emblem mit Sichel und Hammer wurde herausgeschnitten. Wir werden von den Ungarn umringt. Hochrufe, „Es lebe die Freiheit!", „Es lebe die freie Presse!", „Hoch Österreich", ja sogar

„Hoch Kaiser Otto!"

Wir wissen, dass bei der Kettenbrücke auf der Pester Seite gekämpft wird. Wir entschließen uns, den Durchbruch zu wagen. Zwischen zwei Panzern passieren wir die Kettenbrücke, wir sind keine 200 Schritte vom Brennpunkt der Kämpfe entfernt. Links das Parlament, das Verteidigungsministerium. Schüsse peitschen, wir biegen rechts ab, noch 500, noch 400, noch 300 Meter . . . Wir haben es erreicht. Wir bremsen scharf vor dem Eingang unseres Hotels.

Entgeisterte Gesichter empfangen uns. Die Ungarn sagen: „Seid ihr denn vollkommen von allen guten Geistern verlassen? Wir wollen heraus von hier, wo die Hölle los ist, und ihr kommt hierher?" „Was weiß man über unseren Kampf im Westen?" Die Zeitungen, die wir mitgebracht haben, werden uns aus der Hand gerissen. Den österreichischen Gesandten Peinsipp, der sich in wahrhaft rührender Weise seiner Landsleute, aber auch der anderen Ausländer annimmt, können wir sprechen.

Das Nationalmuseum brennt

Wir werden von den Hotelgästen umringt: Wir werden erstaunt herumgereicht, denn wir sind die Ersten, denen der Durchbruch gelang. Ab 18 Uhr ist Ausgehverbot, wir müssen uns daher sofort in der Stadt umsehen. Eine kurze Rundfahrt ergibt Folgendes: An vielen Stellen wird gekämpft. Das Hotel Astoria, wo die Russen ihr Hauptquartier hatten, ist zerschossen. Schräg vis-à-vis, an der Ecke der Rakoczystraße und des Museumrings, im Stadtkern, brennt das Nationalmuseum. Nicht weit von dieser Stelle entfernt, auf dem Calvinplatz, wird gekämpft. Kämpfe toben auch in der Nähe der Basilika.
Wir halten bei ungarischen Militäreinheiten, sie schießen auf die Russen. Schlangen vor den Brotgeschäften. Mehrere Tote sind zu beklagen, als Russen auf friedliche Passanten geschossen haben, die sich um Brot angestellt hatten. Die Spitäler sind derart überfüllt, dass in jedem Bett zwei Verletzte liegen.

Der Aufstand, der als friedliche Demonstration begonnen hatte, ist durch die Rundfunkerklärung des gestürzten Gerö ausgelöst worden. Wie Öl aufs Feuer wirkte die Rede Gerös, in der die Demonstranten als „Pöbel" beschimpft wurden. Die Jugendlichen haben das Rundfunkgebäude gestürmt. Die AVH-Leute schossen in die Menge. Es gab Tote: Die Revolution ist ausgebrochen.

Eugen-Gezá Pogány war viele Jahre lang Ungarn-Korrespondent der „Presse“. Er berichtete als einer der wenigen internationalen Journalisten schon von den ersten Tagen des Ungarnaufstandes 1956. Pogány schrieb bis 2001 für die „Presse“.

Vergangene Woche verstarb Eugen-Gezá Pogány im 92. Lebensjahr.

("Die Presse", 165 Jahre Jubiläumsausgabe, 29.06.2013)

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