Klimawandel

Die letzten Jahre der Gletscher

Die gesamte hochalpine Landschaft um den einst massiven Eiskörper des Tiroler Jamtalgletschers ist in Bewegung. Das Tempo der Gletscherschmelze in den Ostalpen hat in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass die einst massiven Eiskörper nahezu vor den Augen der Forscher zerbröseln.
Die gesamte hochalpine Landschaft um den einst massiven Eiskörper des Tiroler Jamtalgletschers ist in Bewegung. Das Tempo der Gletscherschmelze in den Ostalpen hat in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass die einst massiven Eiskörper nahezu vor den Augen der Forscher zerbröseln.APA / Expa/Johann Groder
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Österreichs Gletscher schwinden in bisher ungeahntem Tempo. Der Tiroler Jamtalferner ist in zehn Jahren Geschichte. Für Gletscherforscher ein Kampf gegen die Zeit.

Wien/Galtür. Das Gletschertor, wie der unterste Rand des Gletschers genannt wird, hat sich schon wieder verschoben. Mehrere Meter ist es von der alten Markierung entfernt, die den Eisrand des Tiroler Jamtalerferners Ende des Sommers 2022 angezeichnet hat. Von 2021 auf 2022 schmolz der Gletscher in der Silvrettagruppe um 37,5 Meter. Auch heuer werden wohl noch einige dazukommen.

„Wir verlieren hier pro Tag um die zehn Zentimeter Eis“, sagt die Glaziologin Andrea Fischer, die Veränderungen könne man mit freiem Auge erkennen. Am Jamtalgletscher schritt der vom Klimawandel verursachte Gletscherschwund zuletzt besonders schnell voran. In rund zehn Jahren werde mehr oder weniger nichts mehr von dem einst stolzen Gletscher übrig sein, schätzt die Forscherin von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

Dass es tatsächlich so rasch gehen kann, wurde erst in den vergangenen Jahren deutlich. Das Ende der Gletscher mussten die Wissenschafter gegenüber früheren Prognosen „um mehrere Jahrzehnte“ vorverlegen. Spätestens 2050 werden sie in den Ostalpen Geschichte sein. Geschätzte sechs Prozent ihrer Fläche verloren Österreichs Gletscher allein im Jahr 2022. Der heuer in vielen Regionen niederschlagsreichere Sommer mit späten Schneefällen verbessert die Situation kaum. Obwohl 2023 hierzulande etwas weniger heiß war als die Rekordjahre davor, ist es immer noch ein „extrem warmes Jahr“, sagt Fischer. Das heurige gegenüber dem Vorjahr etwas reduzierte Schmelzen reihe sich „nahtlos in die Extremjahre ein“.

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ABD0027_20230821 - GALTÜR - ÖSTERREICH: ++ THEMENBILD ++ Die Messmarke von 1990 am Jamtalgletscher. Seitdem ist er um einige hundert Meter geschmolzen. APA / Expa/Johann Groder

In den obersten Bereichen des Gletschers über 3000 Meter Seehöhe liegt heuer überhaupt kein Schnee. Der Firn – Schnee der schon mehrere Jahre liegt und normalerweise innerhalb von etwa drei Dekaden zu Eis verdichtet wird – ist vollkommen abgeschmolzen. „Der Gletscher ist ausgedünnt“, so Fischer. Früher war er am Ende des Sommers noch zu zwei Drittel seiner Fläche mit Schnee bedeckt, im Herbst waren noch bis zu drei Meter des Winterschnees übrig. Sommerschneefälle, die die Schmelze früher regelmäßig für mehrere Wochen zum Erliegen brachten, bleiben heute fast ganz aus.

Unter diesen Klimabedingungen hat der Ferner keine Chance, sich zu regenerieren. Im Gegenteil, er zerbröselt merklich, zerfällt in voneinander getrennte, weiter unten schon sehr schmutzige Eisfelder. In der Folge geht es schnell, erklärte Fischer. Die gefärbte Eisoberfläche taut schneller auf, weil die dunklen Steine sich im Sonnenschein viel stärker erwärmen. Gleichzeitig nagt das abfließende Schmelzwasser von unten am Eis.

Berge in Bewegung

Das bringt die gesamte hochalpine Landschaft um den Rest des Eiskörpers in Bewegung. Vieles ordnet sich in dem Gebiet derzeit neu. So sorgten die massiven Niederschläge Mitte August dafür, dass ein Teil der Seitenmoräne großflächig abrutschte. Was ein Auftauen von Permafrostböden auslösen kann, wurde Anfang Juni unweit des Jamtalferners klar, als im Bereich der Nordwestflanke des südlichen Fluchthorns mehr als 100.000 Kubikmeter Material über das breite Wasser in Richtung Jamtalhütte donnerten.

An den Kanten des Jamtalferners tropft das Schmelzwasser unaufhörlich. Der Eiskörper wird auch von unten ausgehöhlt, der Gletscherbach präsentiert sich dieser Tage fast tosend. Die Bäche, die vom Gletscher Richtung Tal fließen, sind dieser Tage deutlich eingefärbt. Sie waschen viel Sediment vom Berg, das weiter unten von Baggern aus den Flussbetten entfernt werden muss, weil es sonst die gesamte Kraftwerkskette bis weit in die Täler beeinflussen könnte.

Kommt es im Hochgebirge zu starken Niederschlägen, die auch ganz oben nicht mehr in Form von Schnee fallen, rinnt das Wasser ungebremst über das blanke Restgletschereis. Zusammen mit dem vielen Schmelzwasser können hier große Wasser- und Gesteinsmassen in Bewegung kommen, die außerdem Orte bedrohen und in den Tälern Schäden anrichten, erklärt Fischer.

Überraschungen vorprogrammiert

Worauf man sich sonst noch einstellen müsse, bis die Gletscher und viele Permafrostböden aufgetaut sind, ist unklar. Denn ein derartiger rapider Schmelzprozess ist auch für erfahrene Gletscherforscher Neuland. „Wir werden immer wieder vor Überraschungen stehen“, sagt Fischer. „Der großflächige Zerfall der Gletscher ist ein neues Phänomen, das wir erst seit drei bis vier Jahren so beobachten.“ Für eine solche „Übergangsphase“ gebe es historisch keine wissenschaftlich aufgearbeiteten Präzedenzfälle.

Die rapide Schmelze macht die Arbeit der Gletscherforscher zu einem Wettkampf gegen die Zeit. Und das bei steigenden Anforderungen, denn allein die Zeit für die notwendigen Messungen habe sich vervielfacht. „Wir haben die dreifache Abflussmenge und den entsprechenden Aufwand“, so Fischer.

Glaziologin Andrea Fischer vom Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
Glaziologin Andrea Fischer vom Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.APA / Expa/Johann Groder

Die grundsätzlichen Messmethoden der Gletscherforschung – Längenänderungen sowie Oberflächenmassebilanzen – gehen noch auf das ausgehende 18. Jahrhundert zurück. „Beide Methoden sind mittlerweile unzureichend“, sagt Fischer. Die Gesamtschmelze wird damit nicht mehr abgebildet, weil eben der Zerfall von allen Seiten um sich greift. Dazu kommt die Frage, wie sich die rasch frei werdenden Flächen entwickeln. Wie sie von der Vegetation in Beschlag genommen werden sowie wie und ob sie dadurch stabilisiert werden.

Auch die Fragen zu dem wenigen zurückbleibenden Eis sind vielfältig. So ist etwa auch noch unklar, wie sich Eisreste, die unsichtbar unter Schutt verborgen sind, auf Hangrutschungen auswirken können. Auch zur Bildung unterirdischer Blasen aus Schmelzwasser, die rasch ausbrechen und zu Überschwemmungen im Unterlauf und Muren führen können, gibt es noch viele Fragen. Ebenso gebe es zur Kombination der durch den Gletscherschwund freigelegten Sedimente und der durch den Klimawandel zunehmenden Starkregenereignissen noch vieles zu erforschen, erklärte Fischer.

Neue Frühwarnsysteme nötig

All das hilft letztlich, die Gefahrensituation besser einschätzen zu können, um Frühwarnsysteme zu etablieren, die auf die neuen Bedingungen abgestimmt ist. Man müsse darüber nachdenken, ob eher in kostenintensive Verbauungen investiert oder vor allem die Warnsysteme verbessert werden und der Katastrophenfonds aufgestockt wird, um aus den Mitteln Betroffene zu entschädigen. Hier brauche es politische Entscheidungen in Absprache mit den Experten, sagt Fischer. Dass es in Österreich nur rund 20 Personen gibt, die sich hauptberuflich mit Glaziologie und verwandten Themen beschäftigen, macht dies nicht einfacher.

Die Alpen seien „an vorderster Front, weil sie besonders niedrig liegen“. Die Expertise, die man sich hier nun erarbeitet, würde später vielerorts gebraucht. Ebenso gilt es jetzt, besonders altes Gletschereis zu bergen, um es als Klimaarchiv der letzten Jahrtausende und als Zeugen des menschlichen Einflusses weiter erforschen zu können, auch wenn es nur noch im Labor existiert. (APA/twi)

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