Empathie als Schulfach

Klassenstunden fürs eigene Wohlbefinden?

Einander zuhören und sich in den anderen hineinversetzen zu können wird auch an Schulen gelehrt.
Einander zuhören und sich in den anderen hineinversetzen zu können wird auch an Schulen gelehrt.Getty Images
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Sich in andere einfühlen zu können ist sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft essenziell. Diese Kompetenz soll auch in der Schule gestärkt werden.

Die Dänen gelten als glückliches Volk – seit Jahren sind sie in diversen Statistiken ganz oben zu finden. Im heurigen „World Happiness Report“ 2023 etwa belegen sie hinter den Finnen den zweiten Platz. Ein Grund dafür könnte sein, dass dort allen Schülern im Alter von sechs bis 16 Jahren nicht nur Fachwissen, sondern auch Empathie vermittelt wird – und das seit 1993. „Pro Woche gibt es eine Klassenstunde, in der es um Wohlbefinden, darum, wie man dieses erzeugt, und um den guten Umgang miteinander geht. Dazu gehört eben, auf das Gegenüber einzugehen, sich einzufühlen, entsprechend zu reagieren und über Gefühle zu sprechen. So verbessern Kinder und Jugendliche ihre sozialen Fähigkeiten, gleichzeitig wird der Zusammenhalt in den Klassen gestärkt“, erzählt die dänische Psychologin und Familientherapeutin Helle Jensen, die gemeinsam mit dem 2019 verstorbenen Familientherapeuten Jesper Juul, dem Philosophen Jes Bertelsen und anderen ein Konzept zur Stärkung von Beziehungskompetenz für Lehrer und Erzieher entwickelt hat.

Lernumfeld entscheidend

Damit Schüler Empathie lernen können, müsse zuerst ein Lernumfeld, in dem alle Kinder ihre Fähigkeiten stärken und mit sich selbst und anderen in Kontakt sein können, geschaffen werden. „Voraussetzung dafür ist eine Beziehung zwischen Lehrern und Schülern. Entwicklung geht nur durch Beziehung“, beschreibt Jensen.

Wie dies möglich wird, vermittelt sie aktuell pädagogischen Fachkräften, aber auch allen anderen Beschäftigten an drei Berliner Grundschulen. Im Rahmen des von 2020 bis 2025 anberaumten Pilotprojekts „Empathie macht Schule“ erhalten sie in sechs je dreitägigen Modulen praktische Werkzeuge wie Selbstwahrnehmung, die Fähigkeit, bei sich zu sein, Einfühlungsvermögen und Mitgefühl, die Entwicklung von Beziehungskompetenz und Achtsamkeit. Mit kurzen, alltagstauglichen Übungen werden, so Jensen, die fünf verschiedenen „Tore zur Empathie“ – Körper, Atmung, Herz, Kreativität und Bewusstsein – trainiert. „Nur dann, wenn Erwachsene in Einklang mit sich sind, können sie sich mit anderen empathisch verbinden. Und nur dann, können wir diese Fähigkeiten an Kinder und Jugendliche weitergeben. Denn Kinder lernen nicht das, was wir ihnen sagen, sondern das, was wir ihnen vorleben“, ist Jensen überzeugt.

Auch an heimischen Schulen

Auch im österreichischen Schulwesen ist nach Angaben von Walter Vogel, Rektor der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich, die Vermittlung sozialer und persönlicher Kompetenzen ein zentrales Ziel. „Soziale und personale Kompetenzen sind fixer Bestandteil des Unterrichts an österreichischen Schulen, und das Erlernen von Empathie ist ein bedeutender Teil des Aufgabenspektrums im österreichischen Schulsystem“, sagt Vogel. Empathie müsse in jedem Schultyp und in jeder Klasse über die Unterrichtsprinzipen behandelt werden. So sei die „Entwicklung von Empathie und Ambiguitätstoleranz“ eine in allen Unterrichtsfächern verpflichtend zu vermittelnde Kompetenz des Unterrichtsprinzips „Interkulturelle Bildung“. Dementsprechend werde an der PH Ober­österreich in der Aus-, Fort- und Weiterbildung großer Wert auf den Themenbereich der sozialen und personalen Kompetenzen gelegt, was sich in allen Curricula zeige. Leicht seien das Vorleben und die Vermittlung von Empathie in der Praxis allerdings nicht gerade, sagt Julia Straub-Eichinger, Professorin für Biologie und Psychologie sowie Gesundheitsbeauftragte am Gymnasium Schwechat.

Vermittlung durch Rollenspiele

In der Unterstufe setzt sie als Klassenvorstand unter anderem auf Rollenspiele, damit die Schüler lernen, die Perspektive zu wechseln. „Aber um Empathie vorleben und lehren zu können, braucht es systemische Veränderungen wie kleinere Klassengruppen oder bürokratische Entlastungen für Lehrpersonen“, sagt die studierte Psycholo­gin. Zum einen, um mehr Zeit für einzelne Schüler zu haben, die sich mit dem Thema schwertun, zum anderen, um mehr Ressourcen für die eigene Fortbildung aufwenden zu können. „Überlastete und in diesem Bereich wenig geschulte Lehrpersonen können im seltensten Fall selbst empathisch handeln“, so Straub-Eichinger.

Lexikon

Das spätgriechische „empátheia“ bedeutet ursprünglich so viel wie „Leidenschaft“. Heute versteht man unter Empathie die Fähigkeit und Bereitschaft, sich in andere einzufühlen. Anfang des 20. Jahrhunderts definierte der deutsche Psychologe Theodor Lipps den psychologischen Prozess der Einfühlung als „inneres Mitmachen, eine imaginierte Nachahmung des Erlebens des anderen“. Der Brite Edward Bradford Titchener übersetzte dies mit „empathy“.

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