Mein Dienstag

Drei Sommer mit Emile Zola, tief unten in der Mine

Für seine Recherchen zu „Germinal“ besuchte Zola 1884 Bergarbeitersiedlungen und kroch auf allen vieren in finstere Bergwerksschächten.
Für seine Recherchen zu „Germinal“ besuchte Zola 1884 Bergarbeitersiedlungen und kroch auf allen vieren in finstere Bergwerksschächten.(c) EPA (Off)
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Das meisterhafte Bergarbeiter-Epos „Germinal“ sollte Linken und Rechten zu denken geben.

Vor drei Sommern habe ich ihn begonnen, an einem der bei Ebbe schier endlosen Strände der Côte d’Opale, dann immer wieder erschöpft weggelegt. Heuer habe ich ihn endlich beendet: „Germinal“, Emile Zolas großen Roman aus 1884. (Zur Rettung meiner zweifelhaften Ehre, und damit Sie nicht glauben, „Presse“-Redakteure würden mit Leseschwäche ringen: ich las das französische Original). Es gibt diese eine Szene, die mir angesichts der gegenwärtigen weltanschaulichen Aufheizung sehr aktuell erscheint. Zur Erinnerung: in „Germinal“ geht es um einen Bergarbeiterstreik in Nordfrankreich, über dessen Ausgang ich nichts verraten will, weil ich es großartig fände, wenn Sie das selber lesen würden, nur eines darf ich verraten: ein Happy End dürfen Sie sich nicht unbedingt erwarten.

Jedenfalls spielt die Szene im Wirtshaus „Bon-Joyeux“, wo sich Arbeiter versammelt haben, um zu diskutieren, wie es weitergehen soll. Drei Wortführer treten auf: der junge Etienne Lantier, Held des Romans, Rasseneur, ein ehemaliger Arbeiter, der nun eine Kneipe führt, und Souvarine, ein russischer Maschinist. Die Drei repräsentieren die Hauptrichtungen linker Politik: Etienne ist von Karl Marx‘ Lehren beseelt und will die Herrschaft des Proletariats, Rasseneur appelliert an die Geduld und den demokratischen Weg der Verhandlung sozialer Rechte, und Souvarine will alles in die Luft jagen. „Alles zerstören ... keine Nationen mehr, keine Regierungen, kein Eigentum, kein Gott und keine Religionen mehr“, fordert er mit irrem Blick, und es sei verraten: er wird seinen Anarchismus in die Tat umsetzen.

Revolution, sozialdemokratischer Pragmatismus, oder alles sprengen: wenn ich mir die Debatte über die soziale Frage vor Augen führe, schimmert dieser linke Richtungsstreit immer öfter durch. Vielleicht täten die Genossinnen und Genossen gut daran, Zola zu lesen? Und auch bürgerlich-konservative Zeitgenossen könnten in „Germinal“ viel lernen. Armut, Entbehrung und Verrohung gebären Monster, die auch vor den Palästen der Reichen nicht halt machen.

E-Mail: oliver.grimm@diepresse.com

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