Interview

„Migration ist kein Notfall, sondern eine strukturelle Tatsache“

Ex-Innenminister Marco Minniti.
Ex-Innenminister Marco Minniti.APA
  • Drucken

Italiens Ex-Innenminister Marco Minniti plädiert für einen EU-Afrika-Sondergipfel und legale Migrationsrouten nach Europa.

Die Presse: Sie haben als Innenminister während der Flüchtlingskrise 2015/2016 die Situation gemanagt. Seit Jahresbeginn sind in Italien bereits 115.000 Menschen angekommen.

Marco Minniti: Das Risiko ist, dass wir zu den Zahlen von damals zurückkehren. Diese Entwicklung kann sich durch die Destabilisierungsprozesse, die derzeit in Afrika laufen, noch verstärken.

Sie sprechen von den Putschen in Niger und Gabun.

Die Situation in Libyen ist ebenfalls besorgniserregend. Im Sudan herrscht Bürgerkrieg, Tunesien ist instabil und wir haben eine russische Präsenz, die von Libyen bis Zentralafrika reicht. Hunderttausende Flüchtlinge aus dem Sudan sind derzeit in Ägypten und im Tschad untergebracht. Es droht ein Dominoeffekt.

Mit welchen Folgen?

Der Putsch in Gabun gilt als ein weiteres Element der Krise in der ehemaligen Einflusszone Frankreichs, über die Europa sehr besorgt sein sollte. Denn all das, was derzeit in Afrika geschieht, geht Europa direkt an. Nicht nur die steigenden Migrationszahlen, auch die Aufnahme von Ägypten und Äthiopien in die Brics verlangen nach einer Reaktion.

Wie sollte diese Reaktion aussehen?

Wir brauchen eine Sondergipfel zu den EU-Afrika-Beziehungen. Denn das Thema kann nur gemeinsam bewältigt werden, bilateral werden die EU-Mitglieder nicht weit kommen.

Während Afrika wächst, werden die Europäer immer älter.

Wir müssen dieses Ungleichgewicht als Chance sehen. Indien hat 2022 Heimatüberweisungen in Höhe von 100 Milliarden US-Dollar erhalten. Diese gewaltige Summe haben Inder, die im Ausland arbeiten, ihren Familien geschickt. Afrika sollte diesen Wirtschaftsfaktor für sich entdecken und gemeinsam mit der EU und der Afrikanischen Union legale Migrationsrouten etablieren. Nur so funktioniert moderne Migrationspolitik.

Derzeit bekämpft die EU primär illegale Migration.

Migration ist kein Notfall, der bekämpft werden muss, sondern eine strukturelle Tatsache. Das Thema hat uns in der Vergangenheit begleitet und das wird es auch in der Zukunft tun.

Wie soll diese Politik mit der illegalen Migration umgehen?

In den Deals mit den afrikanischen Staaten muss die Pflicht aufgenommen werden, Migranten zurückzunehmen, die auf illegalen Wegen in die EU eingereist sind. Außerdem sollte die Migrations-Gesetzgebung in allen EU-Ländern harmonisiert werden.

Der Deal, den die EU gerade mit Tunesien abgeschlossen hat, scheint nicht zu funktionieren. Seit seiner Unterzeichnung haben sich die Ankunftszahlen vervielfacht.

Der Pakt könnte der Anfang jener Politik sein, von der ich spreche. Aber er muss in eine gesamteuropäische Politik eingefügt werden, allein reicht er nicht aus.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.