Das pervertierte Parlament: Als Gesetzgeber abgedankt

Einst sollte der Nationalrat die Regierung vor sich hertreiben - heute ist es genau umgekehrt.

Wien. „Das Parlament hat gesprochen.“ Gut möglich, dass manch ein österreichischer Mandatar ein wenig neidisch geworden ist, als er den knappen Kommentar des britischen Premiers David Cameron hörte, mit dem er die missglückte Abstimmung über einen Angriff auf Syrien zur Kenntnis nehmen musste. Denn dass eine Regierung ein Prestigeprojekt von den eigentlichen Volksvertretern, den Parlamentariern, zurückgeschmissen bekäme, ist hierzulande – wo es schon als mittelgroße Revolte gilt, wenn einige Abgeordnete aus Protest gegen die Parteilinie vorübergehend den Sitzungssaal verlassen – praktisch unbekannt.

Ironischerweise, eigentlich. Denn als der Staatsrechtler Hans Kelsen nach dem ersten Weltkrieg die 1920 beschlossene Verfassung entwarf, auf der bis heute der Großteil der politischen Strukturen der Republik beruht, konzipierte er einen Staat, dessen Macht vor allem im Parlament konzentriert lag. Alle anderen Bundesorgane (inklusive des Bundespräsidenten, der damals noch von der Bundesversammlung, also National- und Bundesrat gemeinsam, bestellt wurde; seine Direktwahl wurde erst 1929 beschlossen – auch, um die gefühlte Übermacht des Parlaments einzudämmen) leiteten ihre Autorität in diesem Staat vom Parlament ab.

Die Regierung war in diesem System nur als ausführendes Organ konzipiert, das eben die im Parlament beschlossenen Gesetze umzusetzen habe – ganz im Sinne der Gewaltenteilung, die eine klare Trennung zwischen Legislative und Exekutive vorsah.

„Als Gesetzgeber keine Bedeutung mehr“

Wie pervertiert diese Idee nach Jahrzehnten österreichischer Wirklichkeit ist, zeigt sich nicht zuletzt an einem Wahlkampf, in dem fast alle Parteien vor allem eines ins Zentrum stellen: eine Regierungsbeteiligung – oder gleich den Anspruch, den Kanzler zu stellen. „Kein Mensch hat das Gefühl, dass das eine Nationalratswahl ist“, sagt Wilhelm Brauneder. „Dann müsste es ja vielmehr darum gehen, wer wo auf den Listenplätzen steht“ – nicht nur um Spitzenkandidaten, die Kanzler oder Minister werden wollen. Rechtsgeschichte-Professor Brauneder war selbst in den 1990-er Jahren Abgeordneter und Dritter Nationalratspäsident für die FPÖ. Sein Fazit: „Als Gesetzgeber hat der Nationalrat keine Bedeutung mehr.“

Dem ist nur schwer zu widersprechen: Die Mehrzahl der Gesetze wird heute auf Basis einer „Regierungsvorlage“ beschlossen – ein fertiger Gesetzestext, der dem Parlament vom Ministerrat vorgelegt wird, um dort von der Mehrheit der Regierungsparteien abgenickt zu werden. „Inhaltlich wird das dann nicht mehr diskutiert“, sagt Brauneder.

Dass das Parlament heute weit davon entfernt ist, der Regierung ein Programm vorzugeben, hat seine historischen Ursachen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg: Um eine Konfrontation der großen Parteiblöcke wie in der Zwischenkriegszeit zu verhindern, banden sich SPÖ und ÖVP über den Umweg eines Koalitionsausschusses aneinander: Alle Gesetzesvorhaben wurden vorab zwischen Parteigremien paktiert, die Parlamentarier mussten linientreu die Hand heben.

Gesetze werden „durchgejagt“

„Auf Mandatare, die von der Parteilinie abweichen, wird extremer Druck ausgeübt“, sagt Sonja Ablinger. Die SPÖ-Nationalrätin weiß, wovon sie spricht: Als sie 2012 ankündigte, gegen den zu Fiskalpakt stimmen, erhielt sie Dutzende Anrufe und SMS – „es ging darum, wie nach außen wirken würde, wenn die Partei nicht geeint auftritt“, erinnert sich Ablinger. Sie erzählt von den Anstrengungen, die Parteien unternehmen, um solche Eindrücke zu vermeiden: Da würden „Wordings“ ausgegeben, Kritiker bekämen keine Redezeit (oder erst spät nachts), manche Gesetze würden regelrecht „durchgejagt“.

Ablinger stimmte trotzdem gegen den Pakt – und trägt nun Konsequenzen: Sie wurde von ihrer Partei auf dem dritten Platz der oberösterreichischen SPÖ-Landesliste gesetzt, von wo ihr Einzug unwahrscheinlich ist. „Viele Abgeordnete sind ja abhängig von dem Bezug als Nationalrat“, sagt Brauneder – dementsprechend tue die Möglichkeit, von der Partei nicht mehr gereiht zu werden, das ihre, regierungskritische Stimmen unter den Koalitionsmandataren hintanzuhalten.

Dieser Klubzwang – der in Österreich weit strenger wirkt als etwa in Deutschland, wo Abgeordnete aller Parteien gegen die von der Regierung unterstützten Euro-Rettungsmaßnahmen stimmten – ist nur eine Facette, die die Abhängigkeit des Parlaments von der Regierung zementiert: Die Regierung verfügt über die legistischen Abteilungen der Ministerien auch über mehr Kompetenz und Ressourcen als die Gesetzgeber.

Dass sich an der schwachen Position des Parlaments demnächst etwas ändert, glaubt kaum jemand. „Schon im Österreich-Konvent gab es kaum Interesse seitens der Parteien, etwas zu ändern“, sagt Brauneder – allerdings wachse die Bedeutung des Nationalrats als Kontrollorgan. Immerhin.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.09.2013)

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