DiePresse.com-Redakteur Maciej Palucki geriet in Istanbul zwischen die Fronten von Polizei und Demonstranten. Ein Augenzeugenbericht.
28 Grad, Sonnenschein, Meeresrauschen. Die pittoresken Prinzeninseln vor Istanbul, auf denen das Autofahren verboten ist, bieten ein geradezu paradiesisches Erlebnis. Wie schnell man aus dem Ruhezustand in seinem Urlaub herausgerissen werden kann, erlebte ich gestern beim Besuch der millionenschweren Metropole am Bosporus.
Es sollte ein harmloser Konsumtag werden. Genauso wie Tausende von anderen Touristen flaniere ich auf der Istiklal Caddesi, der drei Kilometer langen Unabhängigkeitsstraße, die am Taksim-Platz mündet. Nachdem ich einen Espresso getrunken habe, will ich gemeinsam mit meiner Freundin in ein Kino gehen, das direkt daneben englischsprachige Filme anbietet. Just in diesem Augenblick - ich befinde mich direkt vor dem Lichtspieltheater, gerate ich zwischen die Fronten. Demonstranten, darunter auch viele weibliche Protestierende, auf der einen Seite, bewaffnete Polizisten auf der anderen. Ich bemerke Feuerwerkskörper, die von den Demonstranten abgefeuert werden.
"Für mehrere Sekunden kann ich nicht atmen"
Gefahr liegt in der Luft. Das Kino, in das ich flüchten will, hat indes zugesperrt. Sekundenbruchteile später nehme ich grelle Geräusche wahr. Die Polizei schießt Tränengas auf ihre 'Gegner', darunter auch zahlreiche Passanten. Das chemische Gas lässt mich für Momente erblinden, für mehrere Sekunden kann ich nicht atmen. Ich taumle, bin nicht Herr meiner Sinne. Einer der Demonstranten reißt mich am Ärmel und schreit "come, run". Meine Freundin, die so wie ich keine Ortskundige ist, lotst mich in eine Seitengasse. Die Augen tränen für Minuten, der erste Schock lässt langsam nach. Nahezu panisch versuchen Passanten in der Parallelstrasse in ein Taxi zu springen. "Nach Taksim bitte!". Der Taxler schüttelt den Kopf. Ein städtischer Bus bringt mich schließlich zum Hafen von Eminoenue.
Die Demo wurde übrigens kurzfristig organisiert, nachdem bei Protesten in der Südtürkei am Tag zuvor eın 22-Jähriger ums Leben kam, nach einem Tränengasangriff. Die Unruhen in Istanbul gingen am späteren Abend weiter. Tränengas und Wasserwerfer wurden eingesetzt. Nach dem schweren Aufeinanderprallen am Dienstag hat sich die Lage zwischen Demonstranten und Polizei offenbar wieder verschärft. "Durchaus möglich, dass es nun wieder täglich zu Unruhen rund um den Taksimplatz kommt", sagt ein beunruhigter Betreiber einer kleinen Pension auf den Prinzeninseln. "Willkommen in der Türkei", ergänzt er zynisch beim Frühstück.