Wie man Chemie mit dem Computer betreiben kann

Chemie Computer
Chemie Computer (c) EPA (JOHN G. MABANGLO)
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Quantenmechanische Rechnungen sind sehr aufwendig. Also lag es nahe, sie mit – oft auch anschaulicheren – „klassischen“ Modellen zu verbinden.

Alle Chemie ist im Prinzip „nur“ Quantenphysik. Die Eigenschaften jeder chemischen Verbindung lassen sich mit der Grundgleichung der Quantenphysik – der 1926 vom Österreicher Erwin Schrödinger aufgestellten Schrödingergleichung – beschreiben. Alle chemischen Reaktionen auch. Im Prinzip.

Im Prinzip ja: Die Älteren aus „Radio Eriwan“-Witzen bekannte Wendung passt hier gut. Denn die Schrödingergleichung ist nur für sehr wenige Systeme exakt lösbar: für ein Teilchen in einem Kasten, fürs Wasserstoffatom. Schon für das nächstgrößere Atom, Helium, gibt es keine exakte Lösung. Aber es gibt gute Näherungsmethoden. Die Theorie einer davon, die Dichtefunktionaltheorie, hat übrigens ein anderer Österreicher begründet, der als Kind vor den Nazis fliehen musste: Walter Kohn, Chemienobelpreisträger 1998.

Die Näherungsmethoden sind freilich höchst rechenaufwendig: Ohne Computer sind sie faktisch unmöglich. So hat die gigantische Steigerung der Computerleistung in den letzten Jahrzehnten die Möglichkeiten der Quantenchemie gigantisch gesteigert: Man spricht ganz ohne Verachtung von „Computerchemie“; und viele sagen – in Anlehnung zu „in vivo“ (in lebenden Wesen) und „in vitro“ (im Glas, also im Labor) – „in silico“ (im Silizium, also im Computer).

Sehen wir die Bindungen als Federn...

Als die Computer noch schwächer waren, lag es nahe, Methoden zu verwenden, die die Quantentheorie nicht so streng nehmen, die Schrödingergleichung nicht „ab initio“ lösen, sondern mit diversen Annahmen, die nicht aus der Quantentheorie kommen, sondern aus der klassischen Mechanik – respektive Elektrodynamik, schließlich geht es ja um Ladungen. Also zu rechnen, wie es uns Newton und Maxwell gelehrt haben. Oder gleich ganz klassisch zu rechnen. Und Hand aufs Herz, wer sich ein Molekül vorstellt, stellt sich keine wabernden Wellenfunktionen vor, sondern kleine Kugeln, die mit Stäbchen oder Federn verbunden sind. So ist es heute noch für die Anschauung wichtig, Quantenmethoden und ihre Ergebnisse „klassisch“ zu interpretieren. Mindestens genauso wichtig ist die Frage: Wie kombiniert man quantenchemische und klassische Rechenmethoden respektive Modelle?

Ein hübsches Beispiel haben die drei neuen Nobelpreisträger behandelt: die Elektronen des Kohlenstoffs in organischen Verbindungen. Die können sich in zwei Arten von Zuständen (Molekülorbitalen) befinden, in σ- und π-Zuständen. σ-Elektronen sind stark lokalisiert, sie machen die festen chemischen Bindungen aus; π-Elektronen sind freier, nicht so fest an bestimmten Atomen verhaftet, sie lassen den Grafit glänzen, sie machen den Tabakrauch krebserregend und die Karotte orange. Arieh Warshel und Michael Levitt zeigten, wie es geht, die σ-Elektronen klassisch und die π-Elektronen quantenmechanisch zu beschreiben und die beiden Beschreibungen zu einem Gesamtbild zu kombinieren. Martin Karplus, der mehr Erfahrung mit Quantenchemie hatte, half ihnen bei den π-Elektronen. Mit Warshel nahm er sich auch ein für unser Weltbild wichtiges Molekül vor: das Retinal, das – dem Karotin der Karotte sehr ähnliche – Molekül in der Netzhaut unserer Augen, das Licht einfängt. Das tut es mit seinen π-Elektronen, und die Veränderung in deren Energie bewirkt, dass sich die Form des Moleküls ändert. Das ist die erste Stufe des Sehprozesses. Karplus und Warshel beschrieben sie, wiederum mit einer Kombination aus klassisch und quantenmechanisch.

Alle drei neuen Nobelpreisträger rechneten auch Modelle für Proteine, die ja aus so vielen Atomen bestehen, dass man heute noch (semi-)klassische Näherungen verwendet. Levitt und Warshel zeigten etwa, dass es geschickt sein kann, ganze Atomgruppen als „Pseudoatome“ zu behandeln und zu vernachlässigen, was in ihnen vorgeht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.10.2013)

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