Ein Doppeladler - mitten in der Kirche der Ruinenstadt

Die Kreuzzüge, Byzanz, Stefan Zweig und der Weimarer Dichterfürst: Die Stimme Europas spricht auch an entlegenen Orten im Peloponnes.

Für einen Augenblick fühlt man sich in der Kirche des heiligen Demetrios in Mistra nach Wien versetzt. Mitten im Boden des Gotteshauses befindet sich da ein Doppeladler. Er gleicht jenen, die in Wien auf den Dächern der Hofburg und anderer Gebäude prangen. Und doch hat das Adlerrelief mitten im Peloponnes nichts mit dem Haus Habsburg zu tun. Er erinnert an das tragische Finale einer byzantinischen Herrscherfamilie, den Fall von Konstantinopel und das Ende des Oströmischen Reiches.

Mistra ist heute eine Ruinenstadt. Sie liegt in unmittelbarer Nähe zum antiken Sparta. Im Vergleich zu den meisten Orten des Peloponnes, die schon bei Pausanias erwähnt sind, ist Mistra recht jung: Die Stadt wurde erst im Lauf der Kreuzzüge gegründet. Französische Ritter ließen nach 1204 eine Bergfestung errichten, die bald zum Zentrum zehntausender Menschen wurde. Wie der gesamte Peloponnes wechselte auch Mistra immer wieder den Besitzer. Im 14.Jahrhundert fiel die Stadt ans weit entfernte Konstantinopel und wurde zu dessen Hauptstadt in der Morea, dem heutigen Peloponnes.

Doch die türkische Expansion war unaufhaltsam. Das oströmische Reich umfasste nur noch Konstantinopel und den Peloponnes. Dort, in der Provinzkirche von Mistra, wurde 1449 Konstantin XI. Dragases, der letzte byzantinische Kaiser, gekrönt – in einem Eilverfahren. Seine Regentschaft endete rasch und tragisch.

Er war es, der 1453 Konstantinopel gegen die Truppen des Sultans verteidigte und in der Hagia Sophia die letzte christliche Messe feierte, während die türkische Artillerie schon die Mauern seiner Hauptstadt in Schutt legte. Konstantin XI. zog nach dem Gottesdienst die kaiserlichen Gewänder aus und die Uniform seiner Soldaten an. Kämpfend wurde er erschlagen. Die Eroberer erkannten ihn an seinem purpurnen Schuhwerk, dann trugen sie seinen Kopf durch die Stadt.

Mit Konstantin XI. hatte das Römische Reich, das einst die Welt von Persien bis zu den Alpen umspannt hatte, tausend Jahre nach dem Fall Roms endgültig ein Ende gefunden. Das Wahrzeichen seiner Familie, der Doppeladler, erinnert in Mistra an die Krönung des letzten christlichen Herrschers dieses Weltreichs.

Sein Schicksal wurde durch einen Wiener Schriftsteller unsterblich: In den „Sternstunden der Menschheit“ setzte Stefan Zweig dem Fall von Konstantinopel ein Denkmal. Dass er dabei die christliche Legende von der irrtümlich geöffneten Tür („Ein Staubkorn Zufall, die vergessene Kerkaporta, hat Weltgeschichte geschrieben“), die den türkischen Truppen den Zugang in die Stadt ermöglichte, aufgriff, ist unwesentlich. Der Fall von Konstantinopel markierte eine Katastrophe der Christenheit und den Aufstieg des osmanischen Weltreichs.

Wir wissen vom Leben des letzten byzantinischen Kaisers, der in Mistra gekrönt wurde, viel. Seine Kämpfe gegen die italienischen Städte, die den Peloponnes für sich behaupten wollten, seine frühen Demütigungen durch den türkischen Sultan, die Familienstreitigkeiten in seiner Heimatstadt. Auch die Geschichte der Ruinenstadt Mistra ist gut erforscht.

Heute ist Mistra ein verlassener Hügel. Nonnen leben noch dort, wo einst ein Zentrum byzantinischer Gelehrsamkeit war. Doch aus der deutschen Literaturgeschichte ist der Ort nicht wegzudenken: Mistra war für Goethe jener Landstrich, in dem einander die Antike, fränkisches Rittertum, Byzanz und der deutsche Tatmensch begegneten. Hier siedelte der Dichterfürst, der Griechenland nie bereist hatte, den mystischen Liebesbund des nordischen Faust mit der griechischen Helena an.

Man kann sich an Bücher erinnern, wenn man in der kleinen Kirche Agios Demetrios steht. Beim Anblick des Doppeladlers denke ich: Das Lesen ist etwas Seltsames. Man hat eine Ahnung von dem, was man sieht, und man sieht, was man ein bisschen weiß. Was man zu wissen glaubt, hat man meist irgendwann gelesen. Und wer liest, lebt doppelt.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001
Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit Anfang 2011 ist er
Vorsitzender des Österreichischen
Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.11.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.