Filmfestival Venedig

Goldener Löwe für fantastischen „Poor Things“

Die Männer, die sie formen wollen, stellt sie spielend in den Schatten: Emma Stone als furchtloser Homunkulus Bella im diesjährigen Venedig-Gewinner „Poor Things“.
Die Männer, die sie formen wollen, stellt sie spielend in den Schatten: Emma Stone als furchtloser Homunkulus Bella im diesjährigen Venedig-Gewinner „Poor Things“.Yorgos Lanthimos
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Der Hauptpreis der 80. Filmfestspiele von Venedig ging heuer an Giorgos Lanthimos’ Anti-Pygmalion »Poor Things«. Gewürdigt wurde auch starkes Polit-Kino über die Flüchtlingskrise.

Die Hauptfigur seines Gewinnerfilms sei eine „unglaubliche Kreatur“, und ebenso ihre Darstellerin Emma Stone, sagte der griechische Regisseur Giorgos Lanthimos nach seinem Triumph bei den Filmfestpielen von Venedig. Der 50-jährige Filmemacher erhielt den Goldenen Löwen für seinen außergewöhnlichen filmischen Bildungsroman „Poor Things“. Damit setzte die heurige Jury des prominenten Kinoevents am Lido, angeführt vom US-Regisseur Damien Chazelle, selbst ein Zeichen für die unglaublichen Kreaturen der siebten Kunst – für Filme jenseits der Norm und des profitgesteuerten Zielgruppendenkens, die das Publikum dennoch nicht aus dem Blick verlieren.

„Poor Things“ ist eine hochkarätig besetzte und dennoch herzhaft unverschämte Coming-of-Age-Parabel der verqueren, exzentrischen Art: Basierend auf dem gleichnamigen Roman des 2019 verstorbenen schottischen Kultautors Alasdair Gray schildert es in hochstilisierter Manier die Lehr- und Wanderjahre von Bella Baxter (Emma Stone), einem im Geiste von Frankenstein und Pygmalion geschaffenen Homunkulus. Ausgestattet mit der furchtlosen Neugierde eines Kindes und der Willenskraft einer Erwachsenen erkundet sie alle erdenklichen Winkel der Menschenwelt, vom Luxusleben der High Society bis zu den Lasterhöhlen eines Pariser Bordells. Und findet dabei zusehends zu ihrem souveränen Selbst, entgegen den Vereinnahmungsversuchen diverser Männerfiguren.

Lanthimos, der seit seinen vergleichsweise bescheidenen Arthouse-Anfängen einen ähnlich rasanten Aufstieg hingelegt hat wie die Protagonistin seines neuesten Werks (Anlauf in Österreich wohl 2024), gelingt mit „Poor Things“ etwas wie die Quadratur des Kreises: Eine Aussöhnung „harter“, tendenziell älterer Kunstfilmer-Attitüden mit eher „weicheren“, jüngeren, sprich: die Verquickung eines schonungslosen Blicks auf die Schlechtigkeit der Welt mit einer optimistischen, emanzipatorischen Grundhaltung. Dass „Poor Things“ obendrein Humor beweist, prädestinierte ihn zum Konsensfilm von Venedig – und Oscar-Anwärter.

Polit-Kino. Obwohl sonst kein Beitrag zum diesjährigen Lido-Wettbewerb für ähnlich einmütige Begeisterung sorgte, gab es durchaus starke Konkurrenz. Zumal das Festival heuer eine ungewohnt starke politische Schlagseite hatte. Einige Filme setzen sich indirekt bis enorm direkt für die Aufnahme von Geflüchteten ein: ein Reizthema nicht nur für die italienische Regierung unter Giorgia Meloni. Agnieszka Hollands kraftvoll-zorniger Ensemblefilm „Green Border“, über das grausame Pingpong mit Menschenleben an der polnisch-belarussischen Grenze, brachte ihr einen Vergleich mit Nazi-Propagandisten durch den amtierenden polnischen Justizminister ein. Die 74-jährige Filmemacherin mit jüdischen Wurzeln drohte diesem im Gegenzug eine Klage an. Holland wurde mit dem Spezialpreis der Jury bedacht und erinnerte an die vielen Toten der Flüchtlingskrise.

Matteo Garrones „Io capitano“ heischt Empathie für jene, die sich in der Hoffnung auf ein besseres Leben einem Spießrutenlauf über Landesgrenzen hinweg unterziehen. Das Stationendrama folgt zwei Männern aus Dakar, die nach Sizilien wollen. Auf dem Weg werden sie Opfer von Erpressung, Folter, Ausbeutung, treffen aber auch auf Hilfsbereitschaft. Verglichen mit „Green Border“ ist der Film stringenter, aber sein allegorischer Kunstwille scheint der Dringlichkeit seines Anliegens unangemessen. Garrone wurde mit dem Preis für beste Regie ausgezeichnet. Auch seine Rede fiel politisch aus. Ebenso jene des „Besten Darstellers“ US-Schauspieler Peter Sarsgaard, prämiert für seine Darstellung eines Demenzkranken an der Seite von Jessica Chastain im Michel Francos Drama „Memory“ und die von Regisseur Pablo Larraín (bestes Drehbuch für „El conde“, zusammen mit Guillermo Calderón). Sie ergriffen Partei für die streikenden Schauspieler und Autoren in Hollywood. Leer ging hingegen „Die Theorie von Allem“ aus, dieses Jahr der einzige Venedig-Beitrag mit Österreich-Bezug: Timm Krögers zum Teil im Südbahnhotel am Semmering gedrehte Quantenphysiker-Mystery verirrt sich in der eigenen Rätselhaftigkeit.

Festivaldirektor Alberto Barbera kann ganz zufrieden sein mit der heurigen Edition, ungeachtet von Problemen wie die durch den Hollywoodstreik bedingte Star-Absenz. Einen abrupten Abgang mit Schrecken wie beim Berlinale-Chefkurator Carlo Chatrian, der seinen Posten voraussichtlich nach nur vier Jahren im Amt wird räumen müssen, dürfte der 73-Jährige wohl eher nicht befürchten – obwohl bereits spekuliert wird, dass sein Vertrag nach 2024 womöglich nicht mehr verlängert wird. Barbera kann auf 15 bisweilen turbulente Festivaljahre zurückblicken, in denen er Venedig eine stärkere kommerzielle Ausrichtung verpasst hat, ohne die Kunst komplett im Kanal zu versenken. Auch die heurige Edition des altgedienten Events trug im Guten wie im Schlechten seine Handschrift. Und vermochte so jedenfalls, Star-Schwund zum Trotz, die Aufmerksamkeit des Publikums und der internationalen Berichterstatter zu halten. Auch wenn sich Letztere gegen Ende der knapp zweiwöchigen Filmfeierlichkeiten wie gewohnt ausgedünnt hatten: Viele von ihnen sind längst weitergezogen gen Kanada, wo bereits das nächste große Leinwandevent, das Toronto International Film Festival, mit frischen Premieren lockt.

Preise

Goldener Löwe: „Poor Things“ (Giorgos Lanthimos)

Großer Preis der Jury: Ryusuke Hamaguchi („Evil Does Not Exist“)

Beste Regie: „Io Capitano“ (Matteo Garrone)

Beste Darstellerin: Cailee Spaeny („Priscilla“)

Bester Darsteller: Peter Sarsgaard („Memory“)

Bestes Drehbuch: „El conde“ (Guillermo Calderón, Pablo Larraín)

Spezialpreis der Jury: „Green Border“ (Agnieszka Holland)

Marcello-Mastroianni-Preis für den besten Nachwuchsdarsteller: Seydou Sarr („Io Capitano“)

Hauptpreis der Nebenschiene Orizzonti: „Explanation for Everything“ (Gábor Reisz)

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