Philolympics NÖ: Siegeressay des Jahres 2014

Philosophieolympiade Landesbewerb Niederösterreich 2014. Siegeressay von Emanuel Lukas Schneider (BG Zwettl).

Thema: “Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt darauf an, sie zu verändern” - Karl Marx

Karl Marx war nicht der Erste, der für sich in Anspruch genommen hat, die Philosophie dahingehend tiefgreifend verändert zu haben, dass sie – um eine Formulierung aus dem Marx-Engels-Kanon zu verwenden – auf den Kopf oder vielmehr vom Kopf auf die Füße gestellt wurde. Es gab vor und während seiner Zeit einen Feuerbach, einen Stirner, einen Dühring, und deren philosophisches Kerngeschäft war es vor allem, - um es nietzscheanisch auszudrücken – das Umwerfen von Götzen. Mit dem deutschen Idealismus eines Hegel oder Fichte ist im 19. Jahrhundert ausgiebig abgerechnet worden, sodass Marx sich rein methodisch gesehen nicht von seinen materialistischen Zeitgenossen unterscheidet. Die Konsequenz und Radikalität seiner Kritik an idealistischen philosophischen Konzepten hebt ihn jedoch von seinem intellektuell-kulturellen Umfeld ab – und genau jene Kritik ist es, die in oben stehendem Zitat, einem einzigen Satz, ihren Kulminations- und Kristallisationspunkt findet.
Was Marx hier postuliert ist nicht weniger als die Wandlung der Philosophie, die bisher nur ein stetes Auswalzen verschiedener Deutungsansätze gewesen wäre, von der grauen Theorie zur revolutionären Praxis. Diese These – die durchaus auch fordernden Charakter hat – resultiert jedoch nicht nur aus den profanen Notwendigkeiten des umstürzlerischen Aktionismus, sondern ist vielmehr die logische Folge des wohl bedeutendsten marxistischen Gedankenkonstrukts – des Materialismus, sowohl unter dem dialektischen als auch unter dem historischen Gesichtspunkt betrachtet. Sein schafft Bewusstsein, nicht umgekehrt – Marx war, wie oben schon bemerkt, nicht der Erste, der diesen Gedanken fasste, doch er dachte ihn als Erster in aller Konsequenz zu Ende. Wir sind alle Sklaven unserer Zeitumstände, und aus diesem Sklaventum gibt es kein Ausbrechen, kein Davonlaufen, denn jene Umstände sind es, die uns zu dem machen, was wir sind – wir können nicht einmal davon träumen, diese Ketten abzustreifen, denn was wir nicht kennen, können wir uns auch nicht vorstellen. Der Verstand, das Bewusstsein, der Wille, der im Idealismus noch zum autonomen Subjekt hochstilisiert wurde, ist hier nicht mehr als ein Produkt des Zusammenspiels aus den biologischen Anlagen des Menschen und der ihn umgebenden Welt. Die Welt und ihre Zwänge sind es, die uns individuell als Person konstituieren und Identität stiften – dass es umgekehrt sein könnte, war für Marx die absurdeste aller möglichen Ideen.

Wie also lässt sich vor diesem Hintergrund jene elfte These über Feuerbach in Marxens Gedankenwelt einordnen? Mir scheint, als hätte er beim Niederschreiben dieser berühmten fünfzehn Worte vor allem eines gewollt, ja gefordert : Demut. Ein Eingeständnis, dass jede Philosophie, jede Theorie, auch die Seine – das hat er nie bestritten – ein Produkt ihrer Zeit ist, ja sein muss – und es darum müßig ist, über Generationen hinweg das Wesen, den Sinn und die Bedeutung der Welt und des Lebens zu diskutieren. Vielmehr solle die Philosophie das tun, wozu sie letztendlich determiniert sei, was für sie historisch notwendig ist. Hat Antonio Gramsci nicht genau das gemeint, als er von organischen Intellektuellen schrieb? Intellektuelle, die sich dessen bewusst sind, dass sie nicht für sich selbst oder für Gott oder für wen auch immer philosophieren, sondern im Dienste einer Sache stehen – weil es gar nicht anders sein kann. Daher der Begriff organisch – sie erfüllen ihre notwendige soziale Funktion, für die eine oder andere Partei im Klassenkampf, so wie sich auch ein Lymphozyt nicht aussuchen kann, ob er nun einen Virus frisst oder nicht -  er tut es einfach.
In dieser Feuerbach-These eine bloße, unter Umständen nur politisch motivierte Forderung zu sehen, ginge also nicht weit genug. Im Wesentlichen beschreibt und analysiert Marx, so wie er stets nur beschrieben und analysiert hat. Die materialistischen Überlegungen, die er angestellt hat, führen zwangsweise zur Erkenntnis, dass die Philosophie, auch wenn sie für sich in Anspruch nimmt, allem gegenüber kritisch zu sein, genauso als Herrschafts- oder Widerstandsinstrument dienen kann, ja dienen muss. Marx hat wohl selbst, natürlich noch in Unkenntnis des Begriffes, der erst lange nach seinem Tod geprägt wurde, den Idealtypus eines organischen Intellektuellen vorgelebt : sich seiner Rolle und Funktion bewusst, nicht nur Theoretiker, sondern auch Agitator im Dienste der Revolution, aber ohne jemals die Fähigkeit und auch den Anspruch permanenter Kritik und Kritikfähigkeit zu verlieren – stets am menschlichen Fortkommen interessiert, wissend, dass er nur „Geburtshelfer“ einer neuen Ordnung sein kann, nicht aber deren Konstrukteur. Wer also, wie es von manchen immer noch gern betrieben wird, diese Feuerbach-These als „Beweis“ dafür vorbringen will, dass Marx mehr Ideologe als Philosoph war, entlarvt sich damit nur selbst als jemand, der wohl zu faul ist, etwas tiefer zu schürfen – und offenbart ein eklatantes Unverständnis eines der, allein schon wegen seiner politischen Wirkmächtigkeit, größten und wichtigsten Denksysteme der Menschheitsgeschichte. Wie schade, dass Marx‘ Erben seinerzeit denselben Fehler gemacht haben – weil auch sie ihn vielleicht gar nicht verstehen wollten.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.