Die Scham des Schwimmers

"Barrakuda" Verlag Klett-Cotta
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Nach dem Erfolgsroman "Nur eine Ohrfeige" schrieb Christos Tsiolkas mit "Barrakuda" sein zweites Sittenbild des modernen Australien. Und trifft damit wieder ins Schwarze.

Der Barrakuda ist ein Pfeilhecht, ein aggressiv aussehender Raubfisch mit vorstehendem Unterkiefer, in manchen Gewässern mehr gefürchtet als der Hai. Er beißt zwar meist nur einmal zu, doch die Verletzungen gehen tief, der Blutverlust ist enorm.

Daniel Kelly ist „Barrakuda“. Den Spitznamen verdankt er den Kommilitonen an der Eliteschule, in die er dank seiner außergewöhnlichen Schwimmbegabung als Stipendiat aufgenommen wird. „Barrakuda“ schwimmt so schnell wie kein anderer, treibt sich im Wasser und an Land ständig selbst an: „Ich bin der Stärkste, ich bin der Schnellste, ich bin der Beste.“

Gemocht wird das Arbeiterkind von seinen reichen Mitschülern deshalb allerdings noch lange nicht. Gefürchtet schon: „Psycho Kelly“ setzt seine Wut und seinen Zorn nicht nur ein, um im Becken Höchstleistungen zu erbringen. Er bleckt seine Barrakuda-Zähne auch außerhalb der Schwimmhalle, um sich Respekt zu verschaffen oder sogar, wie er fälschlich glaubt, Zuneigung und Liebe. Wenn er dann zubeißt, fließt viel Blut.


Nur der Sport zählt. Christos Tsiolkas setzt mit seinem zweiten auf Deutsch erschienenen Roman fort, was er mit „Nur eine Ohrfeige“ begonnen hat: Er zeichnet ein scharfzüngiges und -sichtiges Sittenbild des modernen Australien – jenes Kontinents, den Europäer oft nur mit Sonne, Sand, Surfen, mit unkomplizierten Menschen in Flipflops assoziieren. Und mit Sport. Mehr als eine hitzige Debatte in „Barrakuda“ dreht sich um die Frage, warum Australien so viel Geld in die Förderung des Sports pumpt, während Gesundheit und Bildung zu kurz kommen.

Die Antwort gibt Tsiolkas auf 450 Seiten: Sport ist das Ticket für den gesellschaftlichen Aufstieg, für die soziale Anerkennung, die im vermeintlich egalitären Australien durchaus nicht allen sicher ist. Historisch gewachsene Standesunterschiede fehlen zwar, dafür wird die gesellschaftliche Position vom Geld bestimmt. Im modernen Australien ist man, was man hat. Und wer wenig hat, muss umso mehr leisten.

Danny Kelly ist wild entschlossen, alles zu tun, um einer der „Golden Boys“ zu werden: berühmt, bewundert, beneidet. Sein sehnlichster Wunsch ist die Teilnahme an den Olympischen Spielen im eigenen Land im Jahr 2000. Danny trainiert wie besessen, bereit, alle und alles zu opfern – und doch ist er nicht gut genug. Als er bei einem internationalen Wettkampf nur Fünfter wird, dreht er durch. Und ab da kämpft er nicht mehr darum, als Erster anzuschlagen, sondern nur noch darum, nicht vollends unterzugehen. Die Scham über diesen öffentlichen Ausraster, darüber, ein Loser zu sein, wird zur bestimmenden Kraft in Dannys Leben, das in einer verhängnisvollen Abwärtsspirale gefangen ist, Ziel: Katastrophe.

Atemlose Welt. Auf diesen Höhepunkt steuert Tsiolkas von Seite eins an zu. Hat er in „Nur eine Ohrfeige“ ständig die Erzählpositionen gewechselt, springt er in „Barrakuda“ zwischen den Zeiten. Deshalb weiß man von Anfang an, dass Schreckliches passiert – nur nicht wo und wann. Die ersten 150 Seiten liest man praktisch ohne Atem zu holen. Tsiolkas zieht den Leser in seine atemlose Welt, in der man auch über Wasser nur schwer Luft bekommt. Kaum eine seiner Figuren ist mit sich im Reinen, alle suchen etwas: Identität, Anerkennung, Glück. Zufrieden ist nur, wer zu faul, zu scheinheilig oder zu zugedröhnt zum Denken ist.

Wie schon „Nur eine Ohrfeige“ ist auch „Barrakuda“ deshalb nicht gerade von Sympathieträgern bevölkert. Das gilt über weite Strecken auch für Danny Kelly, der nicht nur Opfer ist, sondern bei der ersten sich bietenden Gelegenheit gern zum Täter wird. Mitleidlos und rau, sexuell explizit und aggressiv ist auch der Ton des Romans.

Möglicherweise wäre „Barrakuda“ ein noch besseres Buch geworden, hätte Christos Tsiolkas sich ein Beispiel an seinen Schwimmern genommen und ein bisschen mehr auf Disziplin geachtet. So verpasst er gegen Schluss ein paarmal die Gelegenheit anzuschlagen. Ein kleiner Schönheitsfehler, der aber Tsiolkas Position als moderner literarischer Champion Australiens keinen Abbruch tut.

Neu Erschienen

Christos Tsiolkas
„Barrakuda“

Übersetzt aus dem Englischen von Barbara Heller

Verlag Klett-Cotta

471 Seiten

22,95 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.03.2014)

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