Alle gegen alle in Dagestan

Alissa Ganijewa
Alissa GanijewaGreg Bal/Suhrkamp-Verlag
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Die junge russische Autorin Alissa Ganijewa hat einen vielstimmigen Roman vorgelegt, der verspielt und gleichzeitig beängstigend ist: Ein Blick auf eine Gesellschaft in Auflösung.

Denk immer daran, dass du Dagestaner bist, mein Sohn, und tausche diesen Titel gegen kein Gold der Welt ein!“ Diese Worte spricht ein Vater zu seinem Sohn in Alissa Ganijewas Roman „Die russische Mauer“. Es sind Sätze von früher, als man noch stolz darauf war, ein Bewohner dieses Grenzgebiets zwischen Kaspischem Meer und Kaukasus zu sein. Mittlerweile ist der Stolz von den mannigfaltigen Problemen überdeckt. Die Zeit des unbeschwerten Zusammenlebens von vielen Völkern auf diesem kleinen Fleckchen Erde ist Geschichte.

Es ist keine einfache Angelegenheit, die Vielfalt Dagestans in einem Roman abzubilden. Darginer, Awaren, Lesginen, Kumyken, Achwachen, Tschamalalen, Laken, Adyger – unzählige Ethnien finden sich Ganijewas Geschichte. Eine Vielzahl an Protagonisten spaziert über die Erzählbühne, exotische Speisen werden gekocht und unbekannte Ausdrücke aus den lokalen Idiomen verwendet. Der Leser sollte sich dadurch nicht verwirren lassen; der jungen Autorin ist nicht die Kontrolle über ihre Feder abhandengekommen. Es ist ein gewolltes Durcheinander. Ganijewa entführt uns in eine verstörende Gegenwart, in der vieles gleichzeitig und gleichzeitig gar nichts passiert. Sie porträtiert eine Gesellschaft am Rande des Bürgerkriegs, in der das Gerücht die Wahrheit schon besiegt hat.

Den Stoff für den Roman hat Ganijewa in der Gegenwart gefunden: Streitigkeiten zwischen den Ethnien. Islamisten, die gegen die Sufi-Scheichs kämpfen. Rebellen gegen Sicherheitskräfte. Landknappheit. Korruption. Freunderlwirtschaft. Es ist dieses explosive Gemisch, das der Republik im russischen Nordkaukasus in den vergangenen Jahren die höchste Opferrate im Vergleich zu den anderen Teilrepubliken in der Region eingebracht hat.

Aus Dagestan, dieser knapp drei Millionen zählenden Republik, stammt auch Ganijewa. Sie lebt mittlerweile als Schriftstellerin und Literaturkritikerin in Moskau. Einmal notierte sie über den Blick der Russen auf ihre Heimat: „Für sie ist Dagestan ein unbekanntes exotisches Land, in dem islamistische Terroristen einfach so auf die Welt kommen.“ Den wenigsten sei bewusst, dass Dagestan zu Russland gehöre. Schon in ihrer Erzählung „Salam, Dalgat“ (veröffentlicht ebenfalls bei Suhrkamp in „Das schönste Proletariat der Welt“) erzählte Ganijewa ihre Geschichte aus der Perspektive eines jungen, männlichen, umherirrenden Helden: Mit ihm gelangt sie in Diskotheken, Fitnessklubs, in Moscheen und Bergdörfer.

Vielstimmiges Durcheinander. Ihr Romanheld Schamil ist ein junger Mann, der vergeblich auf einen vernünftigen Job hofft und sich derweil als Gelegenheitsreporter durchschlägt. Er läuft wie verloren durch die Straßen der Hauptstadt Machatschkala; er will sich amüsieren, wird aber von den beunruhigenden Ereignissen stets eingeholt. Denn ein Gerücht hat die Bürger in Aufregung versetzt: Es heißt, die Russen bauten eine Mauer, um den Nordkaukasus zu umgrenzen. Gleichzeitig beanspruchen mehrere ethnische Gruppen die Vorherrschaft. Die Behörden ignorieren die Radikalisierung, die Bürger sind selbst ernannten Rächern hilflos ausgeliefert. Am Schluss muss Schamil in Deckung gehen – vor den Maschinengewehrsalven, die durch die Stadt zischen. Auch seine persönliche Welt zerfällt: Schamils Verlobte, Madina, eröffnet ihm, dass sie sich einem bärtigen Kämpfer anschließen wird.

In Ganijewas Roman spritzt kaum Blut, es ist kein Insiderbericht aus dem Rebellenlager. Und dennoch bietet er eine Innenperspektive einer zerfallenden Gesellschaft – die droht, sich in Stämme, radikale Gruppen oder Einzelkämpfer aufzulösen. Mittels Textcollagen und vieler verschiedener Sprechpositionen gestaltet Ganijewa ein eindrückliches, vielstimmiges Durcheinander. Sie zeichnet das Bild einer dissonanten, im Widerstreit befindlichen Republik, die sich schon längst von der Ordnungsmacht des Moskauer Zentrums abgekoppelt hat und im freien Fall durch den postsowjetischen Raum schlingert. Wohin führt die Reise? Eine klare Antwort auf diese Frage bleibt die Autorin schuldig, aber sie lässt einen schaudernd erahnen, was alles passieren könnte.

Neu erschienen

Alissa Ganijewa
„Die russische Mauer“
Übersetzt von
Christiane Körner
Suhrkamp-Verlag
232 Seiten
23,60 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.03.2014)

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