Liverpool: Ein Klub, der vor allem Mythos ist

Jubel bei Liverpool
Jubel bei LiverpoolREUTERS
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In England kann Liverpool gegen Chelsea für die Vorentscheidung im Titelkampf sorgen und 25 Jahre nach der Hillsborough-Tragödie zurück an die Spitze kehren.

Kein englischer Fußballclub beherrscht die Kunst der Inszenierung besser. Wenn an der Anfield Road vor 45.522 Zusehern die Heimfans des Liverpool FC die Vereinshymne „You'll never walk alone“ anstimmen, läuft selbst dem hartgesottensten Besucher die Gänsehaut über den Rücken. Das Lied kündet von der Belohnung jener, die ausharren in harten Zeiten („When you walk through the storm/Hold your head up high“), die nicht wanken, sondern treu alle Unbill bis zur Erlösung tragen („At the end of the storm/There is a golden sky“). Die Kirche unserer Tage ist das Fußballstadion.

Für die leidgeprüften Fans des Liverpool FC ist der Himmel dieser Tage so golden wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Bei einem Sieg im heutigen Heimspiel gegen Chelsea (15.05 Uhr, live Sky) ist den „Reds“ der erste Meistertitel seit 1990 wohl nicht mehr zu nehmen. Dass die Rückkehr an die Spitze damit ausgerechnet im 25. Jahr der Tragödie von Hillsborough, die 1989 96 Liverpool-Fans das Leben kostete, erfolgt, kann kein Zufall sein. Die besten Geschichten schreibt der Fußball.


Liverpool vergisst nicht. Liverpool liebt die Mythen. Es ist die am stärksten katholisch geprägte Stadt Englands, in der zehntausende Einwanderer aus dem benachbarten Irland ihre Spuren hinterlassen haben. Die spröde Strenge der anglikanischen Kirche trifft hier oft nicht die Herzen der Menschen einer Stadt, in der sich Jahrzehnte des Niedergangs in die Psyche eingegraben haben. Nachdem Liverpool am Höhepunkt des British Empire der größte Hafen der Welt war, verlor die Stadt im Nordwesten des Landes nach Ende des Zweiten Weltkriegs ihre strategische und wirtschaftliche Bedeutung. In den Thatcher-Jahren tobten wilde Kämpfe gegen die Deindustrialisierung der Stadt. Unvergessen sind die Unruhen im Stadtteil Toxteth 1981, nach denen die „Iron Lady“ die Stadt dem „geordneten Verfall“ übergeben wollte.

Bis heute ist Liverpool für die britischen Konservativen politisches Sperrgebiet. In Liverpool wird nichts vergessen, das zeigt das exzessive jährliche Hillsborough-Gedenken. Nicht zufällig heißt einer der berühmtesten Songs der größten Söhne der Stadt, der Beatles, „Yesterday“ und jammert einem Tag nach, an dem „all my troubles seemed so far away“.

Die Leiden im Fußball sind jedenfalls vorbei, nach einer großartigen Saison wäre der Titel die verdiente Krönung. Schon bisher wurden Rekorde fast nach Belieben gebrochen: Nach 35 Spielen hält Liverpool bei 96 Toren, hat die letzten elf Matches gewonnen und stellte Stürmer Luis Suárez mit bisher 30 Liga-Toren eine neue Vereinsbestmarke auf.

Die Bilanz des Uruguayers ist umso bemerkenswerter, als er die ersten sechs Runden wegen einer Sperre versäumte. Seine Wandlung illustriert eindrucksvoll die Arbeit von Manager Brendan Rodgers: Als Suárez vergangenen April Chelsea-Verteidiger Branislav Ivanović in den Arm biss, schien seine Zukunft als Fußballer ernsthaft gefährdet. Doch Rodgers gelang die Zähmung. Heute sagt er über Suárez: „Er ist ein guter Junge, außerhalb des Spielfeldes ist er fast schüchtern.“ Und Suarez dankt seinem Trainer: „Ich bin reifer geworden – dank ihm.“

Das gilt für die gesamte Mannschaft. Der erst 41-jährige Nordire Rodgers setzt nicht nur auf minutiöse Vorbereitung, sondern baut auch auf die Unterstützung des Psychologen Steve Peters. Schwierige Talente wie Raheem Sterling, Jordan Henderson oder Daniel Sturridge schafften den Durchbruch, alte Meister wie Steven Gerrard geigen wie selten zuvor. Er verlor seinen Cousin einst in Hillsborough, die letzten Tage nahmen ihn sichtlich emotional mit.

Zu dem begeisternden Angriffsspiel der Gegenwart war es ein weiter Weg. Als Rodgers im Sommer 2012 von Swansea kam, tauchte der 1892 gegründete Traditionsverein mit einer der größten weltweiten Fangemeinde erst wieder aus der schwersten Krise der Vereinsgeschichte auf. Die desaströse Übernahme durch die US-Investoren George Gillett and Tom Hicks 2007 hatte Liverpool an den Rand des finanziellen Ruins und der sportlichen Bedeutungslosigkeit geführt. Erst der Kauf durch die Fenway Sports Way des US-Milliardärs John W. Henry brachte ab 2010 schrittweise die Erholung.


Limitierte Ressourcen.
Dennoch trat Liverpool von allen englischen Spitzenteams die Saison mit den geringsten Mitteln und dem kleinsten Kader an. Ziel war die erste Champions-League-Qualifikation seit 2009. Diese ist seit dem Sieg über Norwich in der Vorwoche geschafft, und so zeigt sich Rodgers vor dem Spiel gegen Chelsea entspannt: „Der Druck lastet auf unseren Verfolgern. Wir haben unser Ziel schon erreicht.“ Nach Jahren des Niedergangs soll nun das legendäre Stadion ausgebaut und Rodgers ein „großzügiges“ Transferbudget bekommen.

Während rechnerisch auch noch Manchester City gefährlich werden kann, hat Chelsea-Boss José Mourinho mit fünf Punkten Rückstand schon das Handtuch geworfen. Für die Begegnung gegen seinen ehemaligen Schüler Rodgers wolle er „nur Spieler aufstellen, die am Mittwoch nicht spielen“, wenn Chelsea im Rückspiel des Champions-League-Semifinales auf Atlético Madrid trifft. Auf die Psychospiele seines Ex-Bosses reagiert Rodgers gelassen: „Er weiß, dass mir das nicht den geringsten Eindruck macht.“ Rodgers hat allen Grund zur Zuversicht. Wenn heute die Mannschaften durch das Schild „This is Anfield“ den heiligen Rasen betreten, werden sie mit den Worten empfangen „You'll never walk alone.“

Zahlenspiel

122Jahre
ist es bald her, dass der Liverpool Football Club am 3. Juni 1892 gegründet wurde.

18Meistertitel
feierte der Klub. Den ersten im Jahr 1901, die letzte Pokalübergabe fand 1990 satt. Erst vor drei Jahren wurde Liverpool von Manchester United (inzwischen 20 Titel) als englischer Rekordmeister abgelöst.

7FA-Cup-Siege
gelangen in der Vereinsgeschichte, zuletzt 2007. Im Liga-Pokal war Liverpool achtmal erfolgreich.

5Triumphe in der Königsklasse
stehen zu Buche. Zum bislang letzten Mal gewann Liverpool 2005 das Finale nach 0:3-Rückstand noch im Elfmeterschießen gegen den AC Milan.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.04.2014)

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