Gastkommentar

Wer hat Angst vor der eigenen Geschichte?

Peter Kufner
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Der Umgang mit Hitlers Geburtshaus steht exemplarisch für den derzeit grassierenden geschichtspolitischen Dilettantismus.

Die erinnerungskulturelle Sommerpause endet dieses Jahr mit zwei Filmen. Im Herzen Wiens und der Republik – die Freiheitlichen würden wohl abfällig und mit eindeutiger Bezugnahme auf NS-Propaganda vom „System“ sprechen – versammeln sich österreichische Jugendliche am Heldenplatz. Sie fühlen sich bedroht von „Massenmigration“, „Genderwahn“ und „Wokeism“ und wenden bei ihrer Suche nach einer besseren Zukunft ihren Blick zum sogenannten „Hitler-Balkon“ an der Neuen Burg, von dem aus der „Führer“ am 15. März 1938 vor Hunderttausend frenetisch jubelnden Österreicherinnen und Österreichern den Eintritt seiner Heimat in das Deutsche Reich meldete. Was genau damit angedroht werden soll, ist freilich nicht so ganz klar (eine erneute Angliederung Österreichs an Deutschland etwa?), dass es sich aber um eine Drohung handelt, ist offensichtlich. Der YouTube-Clip der Freiheitlichen Jugend lässt keinen Zweifel zu: Sie haben den „Willen zur Tat“, um eine Zukunft in ihrem Sinne zu gestalten.

Weitaus weniger zentral, in der oberösterreichischen Provinz, an der Grenze zu Deutschland hat sich Günter Schwaiger fünf Jahre lang mit dem Umgang mit Hitlers Geburtshaus in Braunau am Inn beschäftigt und ihn filmisch dokumentiert. „Wer hat Angst vor Braunau?“ wurde fast zeitgleich mit dem zweiminütigen Werbevideo der FPÖ-Jugend präsentiert. Schwaiger lässt zunächst einmal Menschen aus Braunau zu Wort kommen, wie sie (erstaunlich entspannt) mit dem Ort umgehen, der von vielen in Österreich und der Welt als die Einbruchstelle des absolut Bösen stilisiert wird, obwohl der kleine Adolf hier nur die ersten drei Jahre seines Lebens verbrachte. Er erfuhr hier nicht seine ideologische und politische Prägung, hier wurden keine Entscheidungen gefällt und keine Verbrechen begangen. Historisch eigentlich ein vollkommen unbedeutender Ort.

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Doch über das Haus wird seit der Enteignung durch die Republik 2016 nicht in Braunau selbst, sondern im fernen Wien entschieden: Im zuständigen Innenministerium kam man auf die Idee (irritierend: nach Beratung durch eine Expertenkommission), seine Bedeutung „neutralisieren“ zu wollen, durch einen Architektenwettbewerb die Fassade umgestalten zu lassen und eine Polizeistation dort anzusiedeln. Mehr geschichtspolitischer Unsinn geht nicht. Die Zeiten, in denen man so getan hat, als wäre nichts gewesen, sollten vorbei sein. Einen Wiedererkennungswert hat das Haus überhaupt nicht, die Symbolkraft des Ortes kann für Ewiggestrige und neue Nazis, die auch im Film am 20. April Kränze ablegen oder Kerzen deponieren, so oder so nicht zerstört werden, der europaweite Architekturwettbewerb erhöhte die Aufmerksamkeit nur noch und die österreichische Polizei mit ihrer unaufgearbeiteten Geschichte von Rassismus sowie ihrem dokumentierten Hang zur FPÖ ist schlicht ein unpassender Nutzer. Ein reflektierter und verantwortungsvoller Umgang mit der Vergangenheit schaut anders aus – egal, wie man die Bedeutung des Hauses einschätzt. Wenn der Ort von sich aus vielleicht auch kein Potenzial für ein vertieftes Verständnis der Geschichte des Nationalsozialismus bietet, so ist er doch ein herausragendes Beispiel für den derzeit grassierenden geschichtspolitischen Dilettantismus. Mit großer Sorglosigkeit wird eine Mythisierung und Fetischisierung befördert, die man eigentlich zu bekämpfen vorgibt. In Braunau spricht sich laut einer neuen Umfrage die Mehrheit der Bevölkerung für eine Nutzung des Hitler-Geburtshauses durch eine Institution zur Aufklärung über die NS-Geschichte aus. Was könnte daran auch falsch sein, ob in Braunau oder andernorts in Österreich?

Verstecken geht nicht mehr

Währenddessen sucht man in Innsbruck einen Umgang mit dem Landhaus, das einst nach dem „Anschluss“ als Gauhaus erbaut und nach dem Kriegsende unkompliziert nachgenutzt wurde. Im Inneren hatte sich Gauleiter Hofer als Kanzlei eine Tiroler Stube mit aufwändig verzierten hölzernen Deckenbalken einrichten lassen: mit geschnitzten Hakenkreuzen, Partei- und Reichsadlern sowie SS-Runen und vermutlich auch einem Hitler-Zitat. Hier tagte später umstandslos die Landesregierung. Immerhin hielt man es Jahrzehnte später für angebracht, stillschweigend die Hakenkreuze zu entfernen. Eine künstlerische Intervention an der Fassade des gerade generalsanierten Nazi-Baus mit dem Text „Wir haften für unsere Geschichte“ – man könnte sagen, eine notwendige Grundannahme für unsere reflektierte Erinnerungskultur, die Franz Wassermann hier formuliert hat – hielt man nun allerdings für zu kritisch und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Landesregierung nicht zumutbar. Ein einstimmiger Jury-Beschluss wurde kassiert und ein professionell aufgesetzter Wettbewerb für gescheitert erklärt. Gescheitert ist auch hier freilich höchstens das Geschichts- und Kunstverständnis der Regierenden. Wie man in Zukunft mit dem Hofer-Zimmer umgehen wird, wird sich weisen: Geplant ist die Nutzung für Vermittlungsaktivitäten. Klar ist: Verstecken geht heute nicht mehr, stillschweigend für interne Sitzungen verwenden auch nicht, aber einfach so der Öffentlichkeit zugänglich machen ebenso wenig.

Diese Orte sind Baustellen unserer Erinnerungskultur und der Geschichtspolitik der Republik, wenn auch vielleicht nicht unbedingt offene Wunden. Monika Sommer, die Direktorin des Hauses der Geschichte Österreich, das die Fläche hinter dem Altan der Neuen Hofburg mit Sonderausstellungen bespielt, fordert völlig zu Recht einen anderen Umgang mit dem Ort der „Anschluss“-Rede Hitlers. Betretungsverbot und die fehlende Nachnutzung führten zur Mythisierung und geradezu Sakralisierung des Ortes, wenn auch nicht intendiert. Tatsächlich könnte der zugängliche Altan ein Lernort sein, von dem aus sich ein einzigartiges Panorama der österreichischen Geschichte erschließen lässt: von der Hofburg und dem Äußeren Burgtor über die großen Museen bis zum Parlamentsgebäude, Wiener Rathaus, Burgtheater und Ballhausplatz. Ein neuer Umgang mit dem Altan würde auch eine wichtige republikanische Markierung am imperialen Heldenplatz darstellen.

Der Stachel wird bleiben

Wir sollten uns jedoch nicht der bequemen Illusion hingeben, dass es für diese oder andere von der NS-Geschichte kontaminierte Orte perfekte Lösungen gibt, die für alle Zeiten alle Probleme lösen. Der Umgang mit ihnen wird immer eine Gratwanderung bleiben. Solang die Geschichte des „Dritten Reichs“, des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust eine Bedeutung für uns hat, werden sie ein Stachel bleiben, Anlass zu Diskussionen bieten, mehrdeutig erscheinen. Es wird sich auch nicht verhindern lassen, dass sie zum Ziel von Ausflügen Rechtsradikaler, alter oder neuer Nazis und Hitler-Verehrer werden (Die wird man konsequent mit den gegebenen rechtlichen Mitteln bekämpfen müssen.) – oder in einem bestimmten Ausmaß das anziehen, was man mittlerweile „dark“ oder „Nazi tourism“ nennt. Entscheidend ist allerdings, dass wir einen sinnvollen Umgang mit den Orten finden, der nichts verleugnet und nichts versteckt.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Andreas Friedle

Der Autor:

Dirk Rupnow (*1972) ist Professor am Institut für Zeitgeschichte der Uni Innsbruck und Dekan der Philosophisch-Historischen Fakultät. Er ist Sprecher des Internationalen wissenschaftlichen Beirats des Wiener Wiesenthal-Instituts für Holocaust-Studien und Konsulent des Hauses der Geschichte Österreich. Demnächst erscheint der von ihm mitherausgegebene Band „Ver/störende Orte. Zum Umgang mit NS-kontaminierten Gebäuden“ (Mandelbaum).

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