Filmschau

Bei Sidney Lumet standen alle unter Druck

Der Thriller „Der Morgen danach“ (1986) brachte Jane Fonda eine Oscar-Nominierung ein.
Der Thriller „Der Morgen danach“ (1986) brachte Jane Fonda eine Oscar-Nominierung ein.Filmmuseum
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Der 2011 verstorbene Regisseur schuf nicht nur die perfekt geölte Verfilmung von „Mord im Orient-Express“. Er zeigte in seinen Filmen auch virtuos, wie die Gesellschaft mit Schuld umgeht. Zu sehen aktuell im Filmmuseum.

Der Hügel ist die einzige Erhebung weit und breit. Aufgeschichtet ist er in einem britischen Militärgefängnis in Nordafrika, in dem während des Zweiten Weltkriegs Soldaten interniert sind, die sich etwas haben zuschulden kommen lassen. Meist nicht allzu viel: Trunkenheit im Dienst oder kleine Diebstähle genügen, um ins Straflager zu gelangen – und es mit dem Hügel zu tun zu bekommen. Angetrieben von den Wärtern erklimmen die Gefangenen, in voller Montur und bei gleißender Hitze, den Erdhang, nur um ihn, oben angekommen, gleich wieder hinabzusteigen. Dann heißt es: umdrehen, das Ganze gleich nochmal.

Das Missverhältnis zwischen mickrigem Verbrechen und sadistischer, sisyphusartiger Strafe ist offensichtlich – und wird in Sidney Lumets „The Hill“ (1965) zum Ausgangspunkt einer wütenden Abrechnung mit dem Autoritarismus des Militärs. Oft drehen sich die Filme Lumets um solche Konstellationen, in denen die Gesellschaft im Umgang mit vermeintlich Schuldigen selbst Schuld auf sich lädt.

Filme über Polizei und Justiz

Immer wieder kehren die Filme des 2011 verstorbenen Amerikaners deshalb zu den beiden Institutionen zurück, die sich in modernen Gesellschaften fast zwingend selbst in die Gewaltverhältnisse, die sie bekämpfen sollen, verstricken: die Polizei und die Justiz. Wenn andere seiner Filme die „Gegenseite“, also die Verbrecher in den Blick nehmen, bündelt sich auch hier Schuld selten ausschließlich in einzelnen Individuen.

Mit anderen Worten: Schuld ist nicht etwas, das Bösewichten in die Wiege gelegt wird, sondern etwas, das in der Gesellschaft kursiert und alle, die in ihr leben, gleichermaßen unter Druck setzt. Die beiden vielleicht bekanntesten Lumet-Figuren, der ehrliche Cop Serpico, der sich im gleichnamigen Polizeifilm (1973) zwischen korrupten Kollegen behaupten muss, und der Bankräuber Sonny Wortzik, der in „Dog Day Afternoon“ (1975) versucht, in einer (selbst verschuldeten) Extremsituation einen letzten Rest Integrität zu bewahren, sind Brüder im Geiste. Beide werden sie von Al Pacino gespielt, der kaum irgendwo stärker war als bei Lumet. Sich in einem Lumet-Film zu befinden, heißt, unter Strom zu stehen. Für einen bestimmten Typ Schauspieler ein dankbarer Zustand.

Er lernte beim Fernsehen

Lumet beginnt in den frühen 1950ern beim noch jungen Fernsehen. In zumeist live ausgestrahlten Dramen von oft nur 20 Minuten Laufzeit kann er viel von dem erproben, was später seine Kinoarbeiten auszeichnet: eine ökonomisch-effektive Dramaturgie, die auf engem Raum dampfdruckkesselartige Spannung erzeugt, wie etwa im gefeierten Kinodebüt „12 Angry Men“ (1957), das fast ausschließlich in einem einzigen Raum spielt, in dem Geschworene über die Schuld eines Angeklagten diskutieren.

Lumets Produktivität verdankt sich womöglich ebenfalls dem Training beim Fernsehen: Zwischen den späten 1950ern und den frühen 1990ern dreht er praktisch jedes Jahr mindestens einen Film; bis zum phänomenalen Schlusspunkt „Before the Devil Knows You’re Dead“ (2007) sind es 44. Ein reiches Werk, das bei aller thematischer Kohärenz nie stillsteht. Die frühen Arbeiten sind noch stark von bühnenartigen Settings her gedacht. Filme wie „The Pawnbroker“ (1964) – über einen Shoah-Überlebenden, der in Harlem eine Pfandleihe betreibt – öffnen sich dann einem ungeschönten, naturalistischen Blick auf die rauen Straßen New Yorks, Lumets Heimatstadt, die sein Werk in vieler Hinsicht prägt. Später, etwa im herzzerreißenden Familiendrama „Running on Empty“ (1989), in dem ein alterndes Terroristenpaar sich mit zwei Kindern durch einen schwierigen Alltag schlägt, überwiegen gelegentlich warme, fast sentimentale Töne. Zwischendrin, zum Beispiel in der perfekt geölten Agatha-Christie-Verfilmung „Murder on the Orient Express“ (1974), reüssiert Lumet als geschmeidiger Hollywood-Handwerker.

27 Filme umfasst die Schau, die derzeit (bis 19. Oktober) im Filmmuseum läuft. Die meisten Schlüsselwerke sind dabei. Wo auch immer man eintaucht in diese Filmografie, stets spürt man denselben neugierigen, wachen Blick; einen Blick, der der Welt ihre Fehler vorrechnet, ohne an ihr zu verzweifeln.

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