Gastkommentar

Verrückte Zeit der grenzenlosen Anmaßung

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Immer mehr maßen sich an, die Welt, Wahrheit und Worte nach ihrer Willkür zu schaffen. Das Korrektiv lautet: Bildung.

Ich will den Mond!“ befiehlt Caligula in Albert Camus’ Drama seinem Diener. „Ich will den Mond! Ich will das Unmögliche!“ – Nur Verrückte sprechen so. Aber wir leben in einer verrückten Zeit grenzenloser Anmaßung. Viele sprechen so.

Immer mehr maßen sich an, die Welt nach ihrer Willkür zu schaffen. Einerseits die Umwelt: Das sich ständig verändernde Klima veranlasst dazu. Großzügig wischt man sachlich fundierte Vorschläge beiseite, mithilfe kluger Technologien die Umwelt zu schonen. Denn diese klingen in ihrer nüchternen Redlichkeit zu zahm. Nein, es gilt, schreckende Wörter wie Erderhitzung in die Welt zu setzen, irrationale Stimmung zu erzeugen, das Thema mit immer schriller werdenden Tönen in die Ohren zu dröhnen und irrwitzige Forderungen zu stellen. Dass diese den Gesetzen der Physik Hohn sprechen – egal! Dass diese Wirtschaft und Wohlstand ruinieren – egal! Dass diese Freiheit rauben – egal! Denn den Betreibern dieses Geschäfts dient der Klimawandel nur als Vehikel für die Erschaffung einer Welt, in der sie allein das Sagen haben.

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Und wie üblich gibt es bei diesem Geschäft Mitläufer zuhauf, die daraus Profit ziehen. Dass sie sich an einem verrückten Unternehmen beteiligen, stört sie nicht.

Andererseits die Innenwelt: Man maßt sich an, sich über die Biologie zu erheben. Man verschließt vor der Tatsache die Augen, dass Frauen zwei X-Chromosomen, Männer ein X- und ein Y-Chromosom besitzen – von außerordentlich seltenen Aberrationen abgesehen.

Zwar ist, wie sich der Einzelne definiert, ganz als Frau, ganz als Mann oder irgendwo anders im geschlechterfluiden Kontinuum, eine höchst persönliche Wahl. Diese gehört ins Private, geht nur den Einzelnen und die ihm Nahestehenden etwas an. Sie jedoch so zu propagieren, dass daraus Forderung und Verpflichtung für alle erwachsen, die von der Biologie gefestigte Zweiteilung der Geschlechter im öffentlichen Raum als überholt zu erklären und daher zu verwerfen, ist rabiate Anmaßung. Und jene, die nicht gehorsamst duckend zustimmen, der Diskriminierung zu zeihen, ist perfide.

Immer mehr maßen sich an, die Wahrheit nach ihrer Willkür zu schaffen: Sie kleiden sich in ein moralisches Mäntelchen. Es gelte, ­Fake News zu entlarven. Mit diesem Kunstwort wird weisgemacht, erst in unserer Gegenwart stürmten Falschmeldungen auf uns herein. Darum brauchte man jene Herolde der Wahrheit, die den Nachrichtenkonsumenten die Spreu vom Weizen zu trennen helfen. Worauf aber können sich diese Herolde berufen, wenn über die Merkmale dessen, was wahr sei, keine Einigkeit herrscht?

Hohl klingt der Ruf nach den „Expertinnen und Experten“, die wüssten, was der Fall sei. Aber jede seriöse Expertise muss zugestehen, von Voraussetzungen ausgehen zu müssen, die ihrerseits nicht infrage gestellt werden – jedenfalls nicht von den zuständigen Fachleuten, weil diese Voraussetzungen nicht in ihr Gebiet fallen. Endgültige Wahrheiten sind von „Expertinnen und Experten“ nicht zu erwarten.

Wer will schon Sisyphus sein?

Nur die Wahrhaftigen, die ernsthaft nach Wahrheit suchen, fühlen sich dem Schicksal des Sisyphus ausgeliefert. Die selbst ernannten Herolde der Wahrheit aber, die sich anmaßen, die Wahrheit schon zu haben, frohlocken, denn niemand kann ihnen ihre Gewissheit rauben. Und wer will schon Sisyphus sein? Nichts korrumpiert die Suche nach Wahrheit mehr als das Vollgefühl, sie bereits zu besitzen.

Am vielleicht bedrückendsten zeigt sich dies in der Beurteilung von Geschichte. Von Schopenhauer stammt das böse Wort, die Geschichtsmuse Klio sei von der Lüge schlimmer durchseucht als eine Gassenhure von der Syphilis. Doch zu seiner Zeit war sich dessen jeder Vernünftige bewusst, nur Toren maßten sich an, das endgültige, das wahre Urteil über ein historisches Geschehen zu äußern. Und es war klar, dass jede Bewertung eines historischen Ereignisses Fragen aufwirft, die von der Bewertung übersehene Aspekte ins Spiel bringt und damit die Bewertung in Schwebe hält.

Ganz anders heute. Das Beispiel des Ukraine-Kriegs belegt es wohl am erschütterndsten. Antje Vollmer klagte darüber. Es sei, schrieb sie, „üblich geworden, zu Beginn jeder Erwähnung der ungeheuren Tragödie um den Ukraine-Krieg wie eine Schwurformel von der ,Zeitenwende‘, vom völkerrechtswidrigen brutalen Angriffskrieg Putins bei feststehender Alleinschuld der russischen Seite zu reden“. „Diese Schwurformel“ so Vollmer weiter, „wird wie ein Ritual eingefordert, wie ein Kotau, um überhaupt weiter mitreden zu dürfen.“ Wenn Logos für die angemaßte Wahrheit nicht reicht, werden Ethos und Pathos bemüht.

Die Anmaßung des Besitzes letztgültiger Wahrheit verdammt Zweifel als Verrat. Zugleich verbietet diese Anmaßung, verhandlungsbereit zu sein, die Interessen der anderen Seite wahrzunehmen. Und das Schlimmste: Diese Anmaßung nimmt schrecklichstes Blutvergießen in Kauf, und kriegsgeile Kiebitze – so nannte Rudolf Burger solcher Anmaßung Verfallene – befördern, vom bequemen Lehnstuhl aus, Leid und Tod bringende Kampfhandlungen.

Immer mehr maßen sich an, Wörter nach ihrer Willkür zu schaffen: Golo Mann, Thomas Manns Sohn, brach am Ende seiner „Deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ eine Lanze für die schöne deutsche Sprache, die sein Vater meisterhaft beherrschte: Sie möge „nicht dürr und gemein werden, sondern ihren Adel erneuern, und mit ihr alles, was im Wort seinen Ausdruck findet“.

Lässig verwerfen diesen Wunsch jene, die sich anmaßen, Wörter nach ihrem Gutdünken zu schaffen und mit einer Kunstsprache ihre Ideologie subtil zu verbreiten.

Sie begehen ästhetische Untaten. Sie bekümmert nicht die Schönheit der Muttersprache, die gar nicht mehr so heißen darf, sondern durch das Kunstwort „Erstsprache“ zu ersetzen ist. Wie es auch verpönt wird, noch von der Mutter zu sprechen, die doch „Elternteil 1“ zu heißen hat. Wittgenstein sprach vom „Gefühl des Ekels, wenn wir ein erfundenes Wort mit erfundenen Ableitungssilben aussprechen. Das Wort ist kalt, hat keine Assoziationen und spielt doch ,Sprache‘. Ein bloß geschriebenes Zeichen würde uns nicht so anekeln.“

Gezielter Raub von Heimat

Die sich anmaßen, Wörter nach ihrer Willkür zu schaffen, schmerzt der Ekel nicht. Ihr Programm ist gezielter Raub von Heimat. Wenn Golo Manns Vater nach seiner Vertreibung in ein ihm fremdes Land darauf beharrte, Deutschland sei dort, wo er, Thomas Mann, sei, bekundete er, dass Sprache Heimat verankert.

Wenn Sprache verdirbt, folgt Entwurzelung. Der seiner Muttersprache Entwöhnte ist beliebig formbar – darum das Programm des Heimatraubs.

Wir erleben eine Ära der Anmaßung. Das alte Rom erlebte sie in Gestalt des wahnwitzig anmaßend gewordenen Caligula. Das war ein Einzelner. Heute sind es viele. Doch es gibt ein Korrektiv: Bildung.

War zur Zeit Immanuel Kants Aufklärung der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit, ist sie heute der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Anmaßung.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

„Die Presse“-Printausgabe, Mi, 4.10.2023

Der Autor

Paul Gruber

Rudolf Tasch­ner (*1953) studierte Mathematik und Physik. Ab 1997 a. o. Professor an der TU Wien. 2006 bis 2017 Kolumnist der „Presse“. Von 2017 bis 2019 und seit 2020 erneut ÖVP-Abgeordneter zum Nationalrat.

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