Gastkommentar

Schreckgespenst Marxismus

Es geht immer noch ein Gespenst um in Europa: Von Marx über Freud bis zur Theologie der Befreiung.

SPÖ-Chef Andreas Babler wird immer noch für seinen „Marxismus-Sager“ kritisiert; so wie auch schon nach den KPÖ-Erfolgen in Graz und Salzburg vor dem Marxismus gewarnt wurde. Als jemand, der in den 1970ern noch an einer nicht verschulten Universität auch darüber etwas lernen konnte, vermute ich, dass viele dieser Kritiker gar nicht wissen, wovor sie eigentlich warnen. „Marxismus“ ist vielfach immer noch ein Schreckgespenst, ein Pappkamerad, auf den aus allen Rohren geschossen wird.

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Müssen sich deshalb Babler und andere marxistisch Inspirierte quasi entschuldigen? Ich denke nein: Karl Marx hat der Welt ein bis heute wichtiges Instrumentarium der Analyse der Gesellschaft, der wirtschaftlichen Vorgänge und der Arbeitsverhältnisse geliefert. In Wertschätzung dessen bin ich auch ein Marxist – ebenso wie beispielsweise auch ein Freudianer. Beide Lehren sind keineswegs nur veraltet und verdächtig: Freud hat ein geniales Werk zum Verständnis der menschlichen Seele geschaffen, und auch wenn vieles (Frauenbild, Religionskritik u. a.) heute überholt erscheint, käme ich nie auf die Idee, mich deshalb nicht mehr als Freudianer zu bezeichnen. Ähnlich bei Marx: Sein Entwurf der Gesellschaftsanalyse mag teilweise veraltet oder manchen falschen Einschätzungen aufgesessen sein. Auch wurde seine Lehre von despotischen Gewaltherrschern missbraucht. Das ist allerdings etwas, was auch andere philosophische Lehren kennzeichnet und was diese auch mit dem Christentum teilen: Auch in dessen Namen wurden blutige Kriege geführt, und bis heute muss das Christlich-Soziale bei den C- und ähnlichen Parteien als Feigenblatt für eine Politik gegen die Armen herhalten. Käme jemand auf die Idee, sich deshalb nicht mehr als „Christ“ zu bezeichnen?

Oder der sogenannte Freudomarxismus: Niemand Geringerer als Erich Fromm, dessen Werke auf vielen Nachtkästchen zu finden sind, zählt zu diesen Theoretikern, ebenso wie viele Intellektuelle der Frankfurter Schule sich marxistischer Ansätze bedienten: Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas oder Max Horkheimer (der übrigens nicht irgendein Revoluzzer, sondern Rektor der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität zu Frankfurt am Main war). Diesen Autoren – Frauen, etwa Hannah Arendt, damals noch in der Minderzahl – verdanken wir unter vielfältiger Bezugnahme auf marxistische Analysen ganz wesentliche Erkenntnisse und Denkmodelle, die die Entwicklung liberaler Demokratien mit auf den Weg brachten.

Christentum und Marxismus

Auch im Christentum gibt es – man denke an die Befreiungstheologie – eine Nähe zum Marxismus. So etwa beim brasilianischen Theologen Leonardo Boff: Marx habe uns eine unumstößliche Lehre hinterlassen, wonach „der Arme ein Ausgebeuteter ist“, durch ein „Produktionssystem, das Kapital übermäßig wertschätzt und Arbeit geringschätzt“. Dies sei auch für das Christentum wegen seiner Option für die Armen und Randständigen von überragender Bedeutung. Auch der deutsche Fundamentaltheologe Johann Baptist Metz hat seine „Politische Theologie als Antwort auf die Herausforderung des Marxismus“ verstanden und die Ideen seines berühmten Lehrers Karl Rahner unter Bezug auf neomarxistische Autoren wie Ernst Bloch, Walter Benjamin, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse weiterentwickelt.

Das heißt: Marxistische Überlegungen gehören bis heute zum seriösen intellektuellen Instrumentarium der Analyse von Gesellschaft und Politik, und Politiker bzw. -innen wie Intellektuelle täten gut daran, sich damit – kritisch, aber ernsthaft – auseinanderzusetzen.

Dr. phil., Dr. h. c. Josef Christian Aigner (* 1953) ist Psychoanalytiker, Psychotherapeut und Bildungswissenschaftler.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

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