Interview

Michael Ludwig: „Keine Ghettos für Arme und keine Ghettos für Reiche“

„Die Erwartungshaltung in die Politik steigt, gleichzeitig sinkt aber die Gestaltungskraft der Politiker.“
„Die Erwartungshaltung in die Politik steigt, gleichzeitig sinkt aber die Gestaltungskraft der Politiker.“Caio Kauffmann
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Wiens Bürgermeister Michael Ludwig will der Rezession am Bau mit Förderungen bei Neubau und Sanierungen entgegenwirken und den sozialen Wohnbau vorantreiben. Der Bund habe bei der Bekämpfung der Inflation versagt.

Vor einem Jahr gab es riesige Aufregung rund um milliardenschwere Sicherstellungen der Stadt Wien für die Wien Energie. Hat die Stadt alles wieder zurückbekommen?

Michael Ludwig: Es wurde jeder Cent, den wir als Eigentümer zur Verfügung gestellt haben, von den Stadtwerken zurückgezahlt. Nicht ein Euro fehlt.

Nur für die Kundinnen und Kunden der Wien Energie ist es teuer geworden.

Das gilt natürlich nicht nur für die Wien Energie, sondern für alle Strom- und Gasanbieter.

Aber im Kunden-Center der Wien Energie warten die Menschen oft vier bis fünf Stunden, weil der Andrang und die Sorgen so groß sind.

Ja, das ist schlimm. Deshalb haben wir ja von der Bundesregierung nicht nur einen Strompreis-, sondern auch einen Gaspreisdeckel gefordert. Bedauerlicherweise hat Finanzminister Brunner argumentiert, dass dies vor allem Wien zugute kommt, und deshalb wurde es nicht gemacht.

Ist das Wien-Bashing seitens der ÖVP?

Man hat damit nicht nur den Wienerinnen und Wienern geschadet, sondern auch den Menschen in anderen Städten. Darüber hinaus wurde der Wirtschaftsstandort geschwächt. Es gibt viele energieintensive Betriebe, die Gas brauchen. So hätte man die Wirtschaft stark unterstützen können. Nicht zuletzt, weil man damit auch den starken Anstieg der Inflation vermieden hätte. Österreich zählt leider zu jenen Ländern, die nach wie vor eine hohe Inflation haben. In Westeuropa sind wir überhaupt das Land mit der höchsten Teuerung. Österreich verliert an Wettbewerbsfähigkeit.

Der Schaden ist angerichtet. Schuldzuweisungen bremsen die Inflation auch nicht. Müsste man nicht gerade jetzt einen Schulterschluss wagen, statt die Inflation auch mit sehr hohen Lohnabschlüssen weiter anzufachen?

Ich bin ja ein großer Unterstützer der Sozialpartnerschaft. Das ist vielleicht nicht mehr modern. Österreich ist immer gut damit gefahren, auf die Sozialpartner zu hören. Ich hab mich immer gegen einen gesetzlichen Mindestlohn ausgesprochen. Das muss im Kompetenzbereich der Sozialpartner bleiben. Und meines Erachtens gibt es keine Lohn-Preis-Spirale, sondern eine Preis-Lohn-Spirale. Die Lohnerhöhungen folgen ja der Inflationsrate. Es müsste also Ziel der Bundesregierung sein, die Inflation zu bekämpfen.

Von den Bürgerinnen und Bürgern wird im Zeitalter von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz erwartet, sich „immer neu zu erfinden“. Gleiches müsste doch auch für den Staat und seine Institutionen wie die Sozialpartnerschaft gelten. Anton Benya ist seit 20 Jahren tot, seine Formel mehr als 60 Jahre alt. Müsste man da nicht auch so manches „neu erfinden“?

Prinzipiell haben Sie recht, aber ich sehe bei der Sozialpartnerschaft ohnehin eine starke Dynamik. Ich gehöre nicht zu jenen, die die Sozialpartner als Blockierer sehen. Im Gegenteil. Österreich würde im internationalen Vergleich nicht so gut dastehen, würde die Sozialpartnerschaft nicht so verantwortungsvoll agieren. Aber natürlich sprechen Sie einen wichtigen Punkt an: Es geht darum, wie sich die Gesellschaft insgesamt modernisiert. Mit Digitalisierung und künstlicher Intelligenz kommen Dinge auf uns zu, von denen viele noch keine Vorstellung haben. Das wird viele Vorteile haben. Mann muss die künstliche Intelligenz in allen Bereichen nutzen. Aber es wird auch Regeln brauchen, um die Menschen zu schützen.

Wäre die Bürokratie nur überall so schnell wie beim Erfinden neuer Regulierungsbehörden.

Wir nutzen in Wien längst die digitalen Möglichkeiten, um eine Entbürokratisierung herbeizuführen. Wir haben etwa ein Projekt zur digitalen Bau-Einreichung umgesetzt. Die Digitalisierung hilft auf der einen Seite, Personal einzusparen. Auch damit wir auf der anderen Seite, etwa in der Pflege, Gesundheit und Bildung mehr Personal einstellen können und auch im internationalen Wettbewerb um die besten Köpfe erfolgreich sind.

Apropos Wettbewerb um die besten Köpfe: In Dänemark sind 74 Prozent der Ukraine-Flüchtlinge in Beschäftigung, in Polen und Tschechien zwei Drittel, in den Niederlanden mehr als 50 Prozent. In Österreich 14 Prozent. Warum funktioniert das nur bei uns nicht?

Das hängt an den politischen Entscheidungen. Es ist für Menschen aus anderen Ländern generell schwierig, hier am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Ich halte das für einen schweren Fehler. Es gibt sehr viele ukrainische Frauen, die bei uns in der Pflege und im Gesundheitsweisen eingesetzt werden könnten, aber es hapert an der Nostrifizierung. Generell ist die Berufstätigkeit von Frauen ein wichtiges Thema. Wir haben in Wien bereits vor zehn Jahren den kostenfreien Kindergarten eingeführt, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu gewährleisten. Seit 2020 haben wir als erstes und einziges Bundesland auch die kostenlose Ganztagsschule. Nur so können Frauen selbst entscheiden, ob sie berufstätig sein wollen oder nicht.

Aber die Frauen aus den anderen Ländern sind trotz Arbeitskräftemangel politisch am Ende doch nicht so erwünscht.

Aus parteipolitischen Gründen wird hier ein Nachteil für Wirtschaft und Standort in Kauf genommen, weil rechtspopulistische Parteien daraus Kleingeld ziehen könnten. Dabei brauchen wir diese Menschen dringend. In allen Branchen werden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gesucht. Ich war deshalb ja auch ein vehementer Gegner des Schengen-Vetos unseres Innenministers gegenüber Bulgarien und Rumänien. Mehr als die Hälfte aller 24-Stunden-Hilfe-Kräfte kommt aus Rumänien. Diesen Frauen, die es ohnehin sehr schwer haben, will man auch noch die Fahrt nach Österreich erschweren. Wir sollten als Politiker nicht immer nur ans nächste Wahlergebnis denken, sondern unsere Wirtschaft, unseren Arbeitsmarkt, unsere Zukunft gestalten. Solche Strategien muss man über alle Parteigrenzen hinweg entwickeln. Es ist nämlich nicht in Stein gemeißelt, dass wir den hohen Standard, den wir in Österreich gewohnt sind, auch in Zukunft halten werden. Das gilt für die Wirtschaft, aber auch für unseren Zugang zur Demokratie.

Es zeigt sich, dass wirtschaftlicher Aufschwung auch ohne Demokratie möglich ist. Gehen unserem Gesellschaftsmodell die Argumente aus?

Ich hab jüngst einen Vortrag des Historikers Christopher Clark gehört, der mit seinen Büchern über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und über die Revolution 1848 für Aufsehen sorgte. Er meinte, dass die damaligen Regime in Europa nicht zu viele Feinde, sondern zu wenige Freunde hatten. Ich habe den Eindruck, uns geht es in der EU auch so. Es gibt gar nicht so viele Feinde. Aber es sind einfach zu wenige, die sich aktiv für dieses gemeinsame Europa einsetzen.

Sind wir eine Art Delegationsdemokratie geworden, die darauf abzielt, dass „die anderen“ sich engagieren sollen?

Es sind leider nur noch wenige Politiker, die das Mitmachen einfordern.

Die meisten Politiker suggerieren: „Strengt euch nicht an, wir regeln das für euch.“

Das Dilemma ist: Die Erwartungshaltung in die Politik steigt, gleichzeitig sinkt aber die Gestaltungskraft der Politiker. Das ist wohl auch der Grund, warum sich die Politik in Scheinthemen flüchtet. Ich frag mich ja mitunter, worüber wir da immer diskutieren, statt die echten Probleme anzupacken.

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„Ich frag mich ja mitunter, worüber wir da immer diskutieren, statt die echten Probleme anzupacken.“«

Warum verlieren Politiker die Gestaltungskraft?

Wir stehen vor dem Problem, dass unser Alltag generell mehr verrechtlicht worden ist. Das hat Vorteile. Das System wird berechenbarer und transparenter. Aber es bietet gleichzeitig einen geringeren Handlungsspielraum für politische Entscheidungen. Wenn ich nur daran denke, was Politiker früher unter dem Applaus der Bevölkerung entschieden haben. Heute gingen sie dafür vermutlich ins Gefängnis.

Könnte man sagen: Die Menschen sind politikverdrossen und gleichzeitig erwarten sie immer mehr von der Politik.

Daran sind die Politiker und auch die Journalisten nicht ganz unschuldig. Wir steigen und fallen gemeinsam in der Akzeptanz der Bevölkerung.

Es ist eine Art Stockholm-Syndrom, das uns vereint. Nur wer ist die Geisel?

Es ist ja kein Zufall, dass Politiker und Journalisten im Berufsranking immer auf den letzten Plätzen liegen.

Mittlerweile sind die Energieversorger hinter uns.

Die sind auch nicht ganz unschuldig daran.

Sie haben vorhin angesprochen, dass Bauverfahren in Wien schneller abgewickelt werden. Aber dennoch wird leistbares Wohnen schwieriger. Die Nachfrage übersteigt das Angebot bei weitem. Wird Wien dem Ruf als Stadt des sozialen Wohnbaus noch gerecht?

Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs ist die Wiener Bevölkerung um 400.000 Menschen gewachsen. Und ich behaupte, dass wir das in Summe gut hingebracht haben, nicht nur was den Wohnbau betrifft. Auch die Infrastruktur ist gut ausgebaut worden, also Kindergärten, Schulen, Arbeitsplätze.

»„Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs ist die Wiener Bevölkerung um 400.000 Menschen gewachsen.“«

Aber es ist in den vergangenen 25 Jahren in Wien keine einzige neue HTL gebaut worden.

Das ist leider richtig. Das sind aber Bundesschulen. Und wir fordern von der Bundesregierung seit vielen Jahren, tätig zu werden.

In dieser Zeit waren nicht nur ÖVP-Politiker, sondern auch SPÖ-Kanzler an der Macht.

Das stimmt. Mittlerweile überlegen wir, eigene Schritte zu setzen, wenn vom Bund nichts kommt. Ich bin in engem Dialog mit der Wiener Wirtschaftskammer und der Industriellenvereinigung. Hingegen sind wir im Bereich der Berufsschulen nicht vom Bund abhängig und können selber Schritte setzen. Wir werden das modernste Schulgebäude in der Seestadt Aspern errichten.

Aber zurück zum Wohnbau: Wird genügend gebaut?

Wir sehen natürlich in ganz Europa eine Stagnation bei der Bautätigkeit. Das liegt vor allem daran, dass Grundstückspreise, Bau- und Finanzierungskosten deutlich gestiegen sind. Das spüren natürlich auch wir. Eine Reihe von privaten Investoren haben ihre Projekte zeitlich auf Eis gelegt. Wir haben deshalb eine Neubau- und Sanierungsverordnung im Stadtsenat beschlossen. Wir sehen dabei eine stärkere finanzielle Unterstützung bei Neubau und Sanierung vor. Wir werden also den geförderten Wohnbau auf hohem Niveau aufrecht erhalten. Wir haben in Wien 220.000 Gemeindewohnungen und 200.000 geförderte Miet- und Genossenschaftswohnungen. 62 Prozent der Wiener leben in einer geförderten und somit leistbaren Wohnung. Und damit sind wir im internationalen Vergleich noch immer das große Vorbild. Die „New York Times“ hat geschrieben, dass Wien „der in Erfüllung gegangene Traum für Mieterinnen und Mieter“ ist.

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„Die ,New York Times‘ hat geschrieben, dass Wien ,der in Erfüllung gegangene Traum für Mieterinnen und Mieter‘ ist.“«

Diese Wahrnehmung wird in Wien nicht überall geteilt. Da entstand zuletzt eher der Eindruck, dass es bei der Umwidmung von Schrebergärten recht schnell geht, ansonsten eher langsam.

Das kann ich nicht bestätigen. In den angesprochenen Fällen haben die Umwidmungen bis zu zehn Jahre gedauert. Da gehen Umwidmungen für Wohnbauten in der Regel viel schneller. Vor kurzem war der Spatenstich in einem geförderten Wohnbauprojekt im siebenten Bezirk auf dem Areal des früheren Elisabeth Spitals. Das werden sie nicht in vielen Millionenstädten finden, dass in einem sehr attraktiven Gebiet so viele geförderte Wohnungen errichtet werden. Und das liegt auch daran, dass wir in Wien eine Regelung haben, dass bei Umwidmungen in der Folge zwei Drittel der Wohnungen gefördert errichtet werden müssen. Eine Maßnahme, die ich noch als Wohnbaustadtrat auf den Weg gebracht habe.

Macht es der hohe Anteil von geförderten Wohnung nicht zunehmend schwierig für Bauträger, hier profitabel zu agieren?

Ich mach mir um die Bauträger dennoch keine Sorgen. Ich kenne deren Finanzstruktur aus meiner Zeit als Wohnbaustadtrat noch ziemlich gut. Aber natürlich würden diese in so attraktiven Gegenden wie in Neubau lieber nur frei finanzierte Eigentumswohnungen errichten. Aber für den sozialen Zusammenhalt in der Stadt ist es wichtig, dass es hier eine Durchmischung gibt – und keine Ghettos entstehen.

In dem Fall wären es Ghettos für Reiche.

Keine Ghettos für Arme und keine Ghettos für Reiche, es ist wichtig, dass es eine Durchmischung gibt. Uns ist das in vielen Gegenden gut gelungen. Ich habe jüngst eine alte Folge von „Alltagsgeschichten“ im ORF über den Brunnenmarkt gesehen. Damals wollten alle nur weg aus dieser Gegend. Das war Ende der 1980er-Jahre. Heute bekommt man dort kaum eine Wohnung.

Eine soziale Grenze ist aber auch die Donau. In Transdanubien wird viel über die Seestadt Aspern erzählt, von Floridsdorf hört man in puncto Stadtentwicklung aber wenig.

Also ich wohne in Floridsdorf!

Das weiß ich, deshalb frage ich auch.

Ich fühle mich dort sehr wohl und sehr sicher. Aber wenn Sie die Seestadt Aspern ansprechen – die ist eines der größten Stadtentwicklungsgebiete Europas. Es gibt dort eine gute Zusammenarbeit zwischen der Stadt Wien, universitären und wissenschaftlichen Einrichtungen und der Privatwirtschaft. Wir testen dort viele Dinge, etwa in der Energiewirtschaft, um daraus Sinnvolles für die gesamte Stadtentwicklung ableiten zu können. Das Erfolgskriterium war, dass wir nach Aspern die U-Bahn gebaut haben, bevor dort die erste Wohnung übergeben wurde. Wir sind damals vom Rechnungshof und von den anderen Parteien sehr kritisiert worden. Aber es war richtig. In meiner Kindheit war die Donau noch viel stärker ein trennendes Element. Mittlerweile gibt es drei U-Bahnlinien, die die beiden Bezirke mit der restlichen Stadt verbinden. Die Stadt ist zusammengerückt.

Und das wichtigste Projekt nördlich der Donau steht auch vor einem Happy End: Der Donauturm dreht sich bald wieder.

Und darüber bin auch ich sehr froh.

Austria‘s Leading Companies Award

Das Interview wurde im Rahmen des Austria‘s Leading Companies Award geführt.

„Austria‘s Leading Companies“ wird von der „Presse“-Redaktion in voller Unabhängigkeit gestaltet und erscheint in Kooperation mit dem KSV1870 und PwC Österreich.

ALC wird unterstützt von A1, Casinos Austria, Commerzbank, Donau Versicherung und Wiener Städtische Versicherungsverein, Post AG, PSA, Škoda, TÜV Austria sowie MVG und Zero Project.

Zu allen Veranstaltungen: www.diepresse.com/alc

Zur Person

Michael Ludwig ist seit Mai 2018 Bürgermeister von Wien. Zuvor war er mehr als zehn Jahre lang Wiener Wohnbaustadtrat. Ludwig ist in einem Gemeindebau in Floridsdorf aufgewachsen. Er lebt nach wie vor im ­21. Bezirk.


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