Archäologie

Auch wir Europäer aßen früher gern Algen und Insekten

Über japanische Restaurants hat der Algensalat auch bei uns wieder Fuß gefasst - nach sehr langer Zeit.
Über japanische Restaurants hat der Algensalat auch bei uns wieder Fuß gefasst - nach sehr langer Zeit. Imago
  • Drucken

Eine Studie zeigt: Wassergewächse waren bis ins frühe Mittelalter eine weit verbreitete Nahrung. Welche ging sonst noch verloren?

„Er aß seit jenem nur noch dies: Seegras, Seerose und Seegrieß“, heißt es in dem humorigen Gedicht „Der Hecht“ von Christian Morgenstern. Glaubt man dem Dichter, bekommen dem Raubfisch die Wasserpflanzen gar nicht. Was für Menschen jedenfalls anders zu sehen ist: In Asien, vor allem in Japan, haben Algen und andere Seegräser einen festen Platz auf dem Speiseplan, und Ernährungsforscher propagieren sie als Lösung zur künftigen Ernährung der Weltbevölkerung – gesund, im Überfluss vorhanden und meist lokal verfügbar. Aber in Europa verziehen viele immer noch das Gesicht, wenn man ihnen das glitschige Grünzeug vorsetzt. Weil es in unserem Kulturkreis keine Tradition hat?

Mitnichten, zeigt nun ein Team von Archäologen rund um Stephen Buckley von der University of York (Nature Communication, 17.10.). Sie haben den Zahnstein von 74 Individuen untersucht, deren Reste man in 28 archäologischen Stätten gefunden hat, die sich über weite Teile Europas verteilen – von Spanien über Schottland bis nach Litauen. Bei 37 Proben überlebten Biomoleküle, die auf eine bestimmte Nahrung schließen lassen, und bei über 70 Prozent von diesen geht es um Wasserpflanzen. Wer in Küstennähe lebte, aß Algen, im Landesinneren holte man Grünzeug aus Flüssen, Teichen und Seen.

„Beilage“ zu Fleisch und Brot

Die untersuchten Funde decken einen breiten Zeitraum ab, von rund 6000 vor Chr. bis ins frühe Mittelalter. Weniger überraschend ist, dass Jäger und Sammler diese Ressource genutzt haben. Viel mehr aber, dass sie auch nach dem Siegeszug von Ackerbau und Viehzucht ein wichtiger Bestandteil der Ernährung blieb, als Ergänzung zu den landwirtschaftlichen Produkten. Erst im Hochmittelalter kamen Algen und Co. in Europa als „Arme-Leute-Fraß“ in Verruf, auf den man nur noch bei Hungersnöten zurückgriff und der sonst allenfalls als Tierfutter diente.

Ähnlich verlief es bei anderen Wildpflanzen – und bei den Insekten. Knusprig gebratene Heuschrecken sieht man auf Darstellungen assyrischer Festmähler, und der griechische Dichter Aristophanes pries sie als „vierflügeliges Geflügel“. Griechen und Römern schmeckten Schmetterlingsraupen, die sie mit Mehl mästeten und zu Ragout verarbeiteten. Beliebt waren zudem die Larven von Bienen und Grillen oder Engerlinge von Käfern. Aber auch diese Tradition ging in unseren Breiten verloren, als im Lauf des Mittelalters nur noch die Ärmsten Insekten verzehrten. Und auch dieser Nahrung wollen Experten zu einer Renaissance verhelfen, weil sie so klimaschonend und reich an Proteinen ist. Immerhin: Brüssel hat mittlerweile wieder Heuschrecken, Grillen und Mehlwürmer zum Verzehr zugelassen.

Noch später und regional begrenzter setzte die Ablehnung von Singvögeln auf dem Teller ein. Erst als im 19. Jahrhundert genug anderes Fleisch verfügbar war, wurden sie in Nordeuropa im Zuge der Naturschutzbewegung mit einem Nahrungstabu belegt. In Frankreich hingegen servieren bis heute feine Restaurants Fettammern, und Italiener delektieren sich an Spatzen mit Polenta. Wer sich darob sogleich ereifert: Früher galt auch Thüringer Meisensuppe als Delikatesse, und das Lieblingsgericht des deutschen Kaisers Wilhelm I. waren Lerchen in Aspik.

An dem hart errungenen Tabu wollen wir natürlich nicht kratzen. Aber wir vertrauen den Wissenschaftlern, die uns Algen und Insekten ans Herz legen (oder besser in den Mund). Zusammen mit all dem, von dem wir mittlerweile viel zu wenig essen, von wilden Kräutern bis Hülsenfrüchten. Nur den Seegrieß lassen wir aus – den hat Morgenstern nämlich erfunden.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.