Gastkommentar

Europa sollte Armenien den Schmerz nehmen

Peter Kufner
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32 Jahre hat die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Armeniens gedauert. Diese Zeit war geprägt von der auffälligen Zurückhaltung der freien Welt.

Dieser Text hätte eigentlich von einem ethnischen Armenier geschrieben werden sollen. Aber er fühlte sich von der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen, nachdem Aserbaidschan im September aus dem Nichts einen Angriff auf das Gebiet Berg-Karabach/Arzach verübt hatte. Ich bin ein Emigrant aus Kalmückien, einer Region im Süden Russlands am Kaspischen Meer. Da ich mich aktiv mit der russischen Oppositionsbewegung, sogenannten ausländischen Agenten und unerwünschten Organisationen beschäftigt hatte, war ich gezwungen, Russland zu verlassen. Also zog ich nach Armenien, ein Land mit einer tausendjährigen Geschichte und Kultur, die in den alten Zivilisationen von Urartu, Großarmenien und sogar Byzanz verwurzelt ist. Armenier erwähnen gern, dass ihr Land das erste war, das im Jahr 301 n. Chr. das Christentum als Staatsreligion einführte.

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Ein europäischer Leser könnte den falschen Eindruck haben, dass die Republik Armenien ein treuer Verbündeter der Russischen Föderation ist. Aufgrund der Arbeit europäischer Kommentatoren, die sich nicht so sehr mit dem Thema befassen, wird allgemein angenommen, dass es sich bei der Karabach-/Arzach-Bewegung lediglich um eine irredentistische Praxis handelt, die von der aserbaidschanischen Diktatur von Ilham Aliyev tapfer gezähmt wurde. Außerdem scheint der Südkaukasus zu weit von der EU entfernt zu sein, und Armenien wird wahrscheinlich als nicht europäische Nation wahrgenommen. Das sind Mythen, die korrigiert werden sollten.

Russland übernahm Kontrolle über Armenien

Nach den Pogromen in Baku und Sumgayit und dem Ausbruch des Ersten Karabach-Krieges (1991–1994) wurde die Frage der nationalen Sicherheit für Armenien zu einer existenziellen Frage. Dann traf die armenische Führung eine strategische Entscheidung, im Interesse der Erhaltung der Armenier in Berg-Karabach/Arzach an der Seite Russlands zu stehen. De facto übernahm Russland die vollständige militärische Kontrolle über Armenien im Ausmaß eines Neokolonialismus. Beamte des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) führen noch immer Passkontrollen auf dem internationalen Flughafen Zvartnots und am Kontrollpunkt Meghri im Süden Armeniens durch. Der nach dem Fürsten Alexander Newski benannte russische Militärstützpunkt befindet sich in Jerewan und Gjumri, der zweitgrößten Stadt Armeniens.

Trotz alldem kam Russland seinen Verpflichtungen zum Schutz Armeniens und Berg-Karabachs/Arzachs in den Jahren 2020 bis 2023 nicht nach, als Aserbaidschan zwei Kriege begann. Armenische proeuropäische Kräfte, insbesondere die von Tigran Khzmalyan geführte Europäische Partei Armeniens, behaupten sogar, dass Russland zu den Nutznießern des arme­nisch-aserbaidschani­schen Konflikts gehöre, da Moskau großes Interesse am sogenannten Zangezur-Korridor hat. Der wiederum geplant wurde von der Türkei und Aserbaidschan zur Diversifizierung der Erdgaslieferungen des Kreml. Es gibt auch Belege dafür, dass Aserbaidschan, das an Energielieferabkommen mit der Europäischen Union gebunden ist, Gaslieferungen aus Russland durchführt, was einen Verstoß gegen das von Brüssel verhängte Sanktionsregime darstellt.

Vorwand für anhaltende Aggression gegen Ukraine

In der UdSSR war Berg-Karabach eine Autonomie innerhalb der Aserbaidschanischen SSR. Die Karabach-Armenier waren in dieser Zeit systematischer Diskriminierung ausgesetzt. Heydar Aliyev, Prä­sident Aserbaidschans in den 1990er-Jahren und langjähriger sowjetischer Führer der Aser­baidscha­nischen SSR, gab sogar zu, eine Politik der absichtlichen Besiedlung Karabachs durch ethnische Aserbaidschaner betrieben zu haben. Die Karabach-Bewegung gewann vor dem Hintergrund der Gräuel­taten in Sumgayit, Baku und anderen Siedlungen der Aserbaid­scha­nischen SSR und des Fehlens wirksamer Gegenmaßnahmen seitens der Spitze der Sowjetunion an Dynamik. Russlands berüchtigte revisionistische Sicht der Geschichte dient als Vorwand für die anhaltende Aggression gegen die Ukraine, und ich liege wohl nicht falsch mit der Aussage, dass die Auflösung der Republik Berg-Karabach für den Kreml eine weitere Revision der Ereignisse des 20. Jahrhunderts war.

Da das Prinzip der territorialen Integrität jeden Staat vor Invasionen von außen schützt, besteht kein Widerspruch zur Befreiungs- und Sezessionsbewegung in Arzach, weil diese Menschen angesichts der bisherigen Ereignisse keine Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz mit Aserbaidschan sahen. Darum geht es im Grunde bei der Dekolonisierung. Das Prinzip der Selbstbestimmung ermöglicht es jeder Nation, im Falle einer Bedrohung ihrer Existenz einen eigenen Staat zu gründen. Die Blockade des Latschin-Korridors 2022 bis 2023 und die September-Aggression sind ein klarer Beweis für die mangelnde Bereitschaft von Präsident Ilham Aliyev, die Berg-Karabach-Frage im Geiste friedlicher Verhandlungen zu lösen.

In den Köpfen vieler Europäer steckt Armenien zwischen dem Nahen Osten und dem Südkaukasus. Politisch gesehen ist Armenien aber Teil der europäischen Kultur. Ohne Zweifel nimmt die Anerkennung der Europäischen Union als Hauptverbündeter in Armenien zu, wenn man die Aktivitäten der Mission der Europäischen Union in Armenien, die die Grenze zu Aserbaidschan überwacht, sowie die enorme finanzielle und wirtschaftliche Unterstützung berücksichtigt. Der Europäische Rat hat beschlossen, die Unterzeichnung eines stabilen Friedensabkommens zwischen Jerewan und Baku sicherzustellen.

Armenien braucht die Schulter des Freundes EU

In meinen Augen wird die Nationalversammlung Armeniens, das Parlament, in zwei bis drei Jahren ausschließlich aus jenen Kräften bestehen, die die proeuropäische Agenda propagieren; andernfalls würden sie von der armenischen Wählerschaft, die von der verräterischen Politik Russlands desillusioniert ist, in Stücke gerissen werden. Der positive Effekt auf das Image Europas in der armenischen öffentlichen Meinung wäre noch bedeutender, wenn Brüssel in der Lage wäre, Jerewan in einem fast unvermeidlichen Krieg mit Aserbaidschan um Syunik und die künstlich angelegten „Enklaven“ militärisch und politisch zu unterstützen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Baku in den kommenden Wochen einen weiteren Krieg beginnen wird.

Die Armenier sind ein wunderschönes südosteuropäisches Volk mit traurigen Augen und einem großen Herzen, das viel Schmerz, Leid und Liebe erträgt. Es gibt eine armenische Redewendung, „tsavd tanem“ („Ich nehme deinen Schmerz weg“), die man zu einem Kind oder Lebensgefährten sagen kann. Jetzt sollte die Europäische Union mehr tun, um das Leid zu lindern und engere Beziehungen zu dieser gefangenen Nation aufzubauen. Um gleichzeitig gegen Russland, die Türkei und Aserbaidschan zu bestehen, sollte Armenien die Schulter eines Freundes spüren, und genau das muss die europäische Familie sein.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Der Autor

Beigestellt

Davur Dordzhiev (*1996) ist Menschenrechtsanwalt und politischer Aktivist. Absolvent des Moskauer Staatlichen Instituts für Internationale Angelegenheiten und der Hochschule für Wirtschaft. Davur arbeitete mit dem HRC Memorial zusammen. Er ist Kandidat für den Ältestenrat der Stadt Jerewan (2023). Jetzt ist er Mitglied des Kuratoriums von Paneuropa Armenia.

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