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Vladimir Vertlib über sein Leben zwischen den Kriegen: Juden sind auch nicht anders

<strong>Nach den Anschlägen der Hamas: </strong>Begräbnis von Abraham Cohen auf dem Mount-Herzl-Friedhof in Jerusalem.
Nach den Anschlägen der Hamas: Begräbnis von Abraham Cohen auf dem Mount-Herzl-Friedhof in Jerusalem. Foto: Francisco Seco/AP/Picturedesk
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In einem Lied heißt es über Israel, es sei „ein ganz normales Land, aber nur fast“. Das stimmt nicht. Israel ist nicht fast, sondern einfach nur ein normales Land. Wenn Massenmörder mehr als tausend Menschen – Frauen, Kinder, Babys – ermorden, foltern, vergewaltigen, reagieren Israelis mit Entsetzen und Angst, aber auch mit Hass und Wut.

Ich hätte es gern gehabt, dass die Geschichte kein Kreislauf ist. Dass Vergangenes irgendwann zur historischen Metapher für das menschliche Drama wird, das man aus sicherer zeitlicher Distanz betrachten, analysieren und künstlerisch verarbeiten kann: ein ferner Spiegel, in den man blickt, um etwas zu lernen und sich selbst besser zu verstehen. Stattdessen bin ich gezwungen, Katastrophen und Traumata früherer Zeiten in modernem Gewand immer wieder im Hier und Jetzt zu erleben …

Der Holocaust kann niemals „historisch“ werden, weil Juden vielerorts weiterhin (wie im vergangenen Jahrhundert und den Jahrhunderten davor) mit Terror, Hass und Vorurteilen konfrontiert sind. Arabische Einwanderer skandierten in Europa immer wieder „Ithab al Jahud!“ („Schlachtet die Juden!“). Die Terrorgruppe Hamas hat die Aufforderung in die Tat umgesetzt. In Israel, dem Land, in dem heute die meisten meiner Verwandten leben, hat die Hamas am 7. Oktober das größte Massaker an Juden seit dem Holocaust verübt.

Was heißt „typisch jüdisch?“

Ich fürchte, dass dieses Verbrechen radikalisierte Muslime in Europa dazu inspirieren wird, Terroranschläge zu verüben. Dies wäre nicht das erste Mal. Angriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen hat es in den vergangenen Jahren europaweit so viele gegeben, dass man sich fast daran gewöhnt hat. Ich weiß, dass es Rechtsradikale und Islamisten gibt, die mich töten wollen, weil ich Jude bin, und Muslime auf der ganzen Welt werden mich hassen, wenn sie erfahren, dass ich Israel unterstütze.

In einem Lied heißt es über Israel, es sei „ein ganz normales Land, aber nur fast“. Das stimmt nicht. Israel ist nicht fast, sondern einfach nur ein normales Land. Wenn Massenmörder ins Land kommen und mehr als tausend Menschen – Frauen, Kinder, Babys – ermorden, foltern, vergewaltigen und knapp zweihundert weitere entführen, reagieren Israelis mit Entsetzen und Angst, aber auch mit Hass und Wut, jagen die Mörder, machen deren Städte dem Erdboden gleich, lassen die Zivilbevölkerung hungern und dursten oder töten sie bei Raketenangriffen.

Ist das richtig oder vertretbar? Natürlich nicht. Ist es zu verurteilen? Gewiss. Aber es ist menschlich. Wahrscheinlich würde sich jedes andere Land nach einem solchen Angriff genauso oder ähnlich verhalten. Bald jedoch wird man sagen, dieses Vorgehen sei „typisch jüdisch“, und wird alle Juden der Welt dafür an den Pranger stellen. Manches, was man uns vorwirft, stimmt sogar: ­Einige von uns sind geizig, gierig, verschlagen, lüstern, brutal und rachsüchtig – so wie Shylock im Stück „Der Kaufmann von Venedig“. Aber nicht, weil wir Juden, sondern weil wir Menschen sind. Shakespeare hatte das erkannt, die Nazis nicht, die Hamas und ihre vielen Freunde und Unterstützer auch nicht.

»In dem verkitschten Weltbild, dem viele Menschen anhängen, sollte ein Opfer
sympathisch und schwach sein. «

Kein aktueller Konflikt, und sei er noch so grausam und blutig, nicht einmal jener in der Ukraine, der uns viel unmittelbarer betrifft, in Berg-Karabach, in Kurdistan, auf dem Balkan und schon gar nicht in Westafrika, auch nicht die Proteste im Iran erregen die Gemüter so sehr wie der Kampf um das winzige Land im Nahen Osten, das nicht einmal halb so groß ist wie Österreich. Das mag damit zu tun haben, dass es sich für Christen, Juden und Muslime um ein „Heiliges Land“ handelt, vor allem aber liegt es wohl daran, dass es dort neben Palästinensern um Juden geht.

Kaum jemand zum Beispiel macht die bei uns lebenden Menschen türkischer Herkunft für die von Erdoğan angeordneten Bombardierungen kurdischer Gebiete in ­Syrien oder im Irak verantwortlich, und niemand verlangt von Zuwanderern aus China Rechenschaft für die Unterdrückung von ­Tibetern oder Uiguren.

Wenn es aber um Juden geht, hat fast jeder eine dezidierte Meinung. Die einen behaupten, nach all den Verfolgungen, Vertreibungen und Massakern, die Juden erleiden mussten, sei ihnen und ihrem Staat mehr erlaubt als anderen. Sie gehen davon aus, dass ich oder andere Juden uns über ihre Haltung freuen und ihnen dankbar sein würden; wenn wir es nicht sind und ihnen widersprechen, sind sie im besonderen Maße gekränkt. Andere hingegen – und diese Gruppe wird mit Fortdauer jedes Konflikts im Nahen Osten immer größer und lauter – fragen sich empört, wieso gerade Juden, die selbst jahrhundertelang Opfer waren und den Holocaust erleiden mussten, nach dem Zweiten Weltkrieg zu Tätern wurden und nun ein anderes Volk unterdrücken oder vertreiben. Die Mär, die Israelis seien „die Nazis von heute“, taucht in fast jedem Krieg auf, den Israel führt, sobald unschöne Bilder und Berichte ins Haus geliefert werden. Wurden gestern noch wichtige Sehenswürdigkeiten in Europa wie z. B. das Brandenburger Tor in Berlin in den Farben Israels beleuchtet, werden heute israelische Fahnen heruntergerissen und Juden bedroht.

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