Analyse

Hetzjagd auf Juden in Russland

Der Mob in Dagestan stürmt den Flughafen, um nach Juden zu suchen.
Der Mob in Dagestan stürmt den Flughafen, um nach Juden zu suchen. Imago/Tass/Ramazan Rashidov
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Die weltweite antisemitische Welle erreicht in Dagestan einen erschreckenden Höhepunkt. Antisemitismus ist in Russland weit verbreitet. Auch Putin spielt damit.

Moskau. Das Wort Pogrom ist ein russisches. Es beschreibt Zerstörung, Zertrümmerung, Zerschlagung. Im 19. Jahrhundert ging es in den allgemeinen Sprachgebrauch über die russische Sprache hinaus ein. Da war es auf dem Gebiet des zaristischen Russland zu brutalen Angriffen auf Jüdinnen und Juden gekommen, mit der Unterstützung der Staatsgewalt. Zu Sowjetzeiten gab es gleich mehrere antisemitische Kampagnen des Staats. Vielen Jüdinnen und Juden war es nicht möglich, an die Universität zu gehen, sie durften bestimmte Stellen nicht besetzen, weil in ihren Pässen als Nationalität „Jewrej“ eingetragen stand: Jude.

Nun ist in Russland wieder von Pogromen die Rede, weil am Sonntag ein Mob aus Hunderten von Männern in der muslimisch geprägten Nordkaukasus-Republik Dagestan den Flughafen der Republikshauptstadt, Machatschkala, gestürmt hat – in der Meinung, in einem Flugzeug aus Tel Aviv seien jüdische Flüchtlinge angekommen. Mit „Allahu akbar!“-Rufen stürmten sie bis aufs Rollfeld. Auf Videos ist zu sehen, wie sie Scheiben kaputtschlagen, Passagiere umzingeln und ihre Pässe verlangen, alles niederrennen, was sich ihnen in den Weg stellt. Mehr als 20 Menschen wurden dabei verletzt, auch schwer. Es ist ein neuer, erschreckender Höhepunkt einer weltweiten Welle des Antisemitismus.

Russland beschuldigt den Westen

Die russischen Behörden ließen die Männer stundenlang gewähren. Erst am Abend schickten sie Spezialeinheiten zum Flughafen. Nach Mitternacht schien sich die Lage zu beruhigen. Angespannt bleibt sie allerdings auch weiterhin. Am Montag wurden in Dagestan mehrere Wohnungen durchsucht und 60 Menschen festgenommen. 

Der russische Präsident, Wladimir Putin, hatte für Dienstag seinen Premier, Michail Mischustin, Vertreter der Sicherheitskräfte und Vorsitzende der Parlamentskammern zu einer „großen Besprechung“ zusammengerufen. Der Schuldige der „Unruhen“, wie Zusammenstöße aller Art in Russland genannt werden, war aus offizieller Sicht schnell gefunden: der Westen. Dieser versuche, „die Ereignisse im Nahen Osten“ zu nutzen, um die russische Gesellschaft „zu spalten“, hieß es am Dienstag aus dem Kreml.

Auch das Oberhaupt der Republik Dagestan, Sergej Melikow, sprach von einem „gezielten Versuch unserer Feinde“, Dagestan zu destabilisieren. Die „Feinde“ verortet er in der Ukraine, die die Menschen in Dagestan zu Hass und Gewalt aufgerufen haben sollen. In der dagestanischen Stadt Chassawjurt umstellten derweil aufgebrachte Männer ein Hotel, weil dort Passagiere aus Israel untergebracht sein sollten. Viele Evakuierungsmaschinen aus Israel landen ausgerechnet im russischen Süden, der stark muslimisch geprägt und oft antijüdisch eingestellt ist.

Der Rabbi in der dagestanischen Stadt Derbent, wo sich nach seinen Worten noch etwa 400 jüdische Familien aufhielten, schlug Alarm: Seine Gemeinde wisse nicht, wohin, und verharre in Angst. Auch in weiteren nordkaukasischen Republiken kam es zu Ausschreitungen. In Naltschik in Kabardino-Balkarien wurden vor einer jüdischen Kultureinrichtung Reifen angezündet und die Wände mit antisemitischen Sprüchen beschmiert. In Karatschai-Tscherkessien forderten Demonstranten, alle Juden aus der Republik zu vertreiben. So viel Hass hat der russische Staat nichts entgegenzusetzen. Stattdessen werden Vertreter der Hamas – seit Jahren – freundlich in Moskau empfangen, für den Kreml gilt sie nicht als Terrororganisation. Offiziell verurteilt hat Moskau den Hamas-Angriff vom 7. Oktober nicht.

Hitlers „jüdisches Blut“

Die neueste Schuldzuweisung gegenüber dem Westen ist eine recht beschränkte Umgehung dessen, was in der verarmten Region im Nordkaukasus passiert – wie auch ein Nicht-eingestehen-Wollen, welchen Boden die eigene, offizielle Meinung für eine derartige Welle des Antisemitismus bereitet. Russlands Außenminister, Sergej Lawrow, hat im vergangenen Jahr davon gesprochen, dass auch Hitler „jüdisches Blut“ gehabt habe und damit für Empörung in Israel gesorgt. Putin entschuldigte sich damals noch für seinen Minister. Beim diesjährigen Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg verbreitete Putin schließlich selbst krude Theorien und griff zum antisemitischen Klassiker: „Ich habe jüdische Freunde, aber …“ Diese „Freunde“ hätten ihm gesagt, dass Wolodymyr Selenskij, der Präsident der Ukraine, kein Jude, sondern eine Schande für das jüdische Volk sei. Damit konstruiert sich Russland ein Narrativ, wie es denn sein könne, dass seine Truppen die Ukraine „entnazifizierten“, während an der Spitze dieses Staats ein Jude stehe.

Aus dem etwa drei Millionen Einwohner starken Dagestan kommen viele Soldaten, die in der Ukraine für Putins „militärische Spezialoperation“ sterben. Ihre Mütter, Schwestern, Ehefrauen haben vergangenes Jahr lautstark dagegen demonstriert. Der Staat griff schnell ein. Der Krieg in der Ukraine zerstörte das ohnehin schwache Vertrauen in die staatlichen Institutionen. Da sich seit den 1990ern in Dagestan der radikale Islamismus immer weiter verbreitet hatte, kam es wiederholt zu Gefechten zwischen Sicherheitskräften und Untergrundkämpfern. Viele in Dagestan leben in Armut und Angst. Der Hass gegen „Andersdenkende“ wird von staatlicher Seite geschürt. Aus dem Vorgehen gegen dieses „andere“ ziehen manche Menschen ohne Perspektiven ihre ultramuslimische Identität heraus, weil es schlicht nichts anderes gibt.

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