Literatur aus der Schweiz

Pedro Lenz: Der Philosoph auf dem Bau

Pedro Lenz ist einer der erfolgreichsten Mundartdichter der Schweiz.
Pedro Lenz ist einer der erfolgreichsten Mundartdichter der Schweiz.© Daniel Rihs
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Mit „Primitivo“ gelingt dem Schweizer Pedro Lenz ein wunderbares Buch voll Herzeleid, Lebensfreude und Altersklugheit. Sein schmaler Band macht Eindruck – und Freude.

Dass Charly auf den Bau arbeiten gehen will, statt die Mittelschule zu besuchen, hat seiner Mutter ganz und gar nicht gefallen. „Ich glaub, sie hat einfach gefunden, Maurer sei unserer Familie nicht angemessen”, berichtet der junge Erzähler in Pedro Lenz’ neuem Roman „Primitivo”. Gleich am ersten Arbeitstag erfährt er, worauf er sich da eingelassen hat: Auf Geheiß der Arbeitskollegen trägt er wieder und wieder schwere Kübel in den vierten Stock, während die sich schieflachen darüber, dass „der feine Herr fast O-Beine bekommen und geschnauft hat wie eine Dampflok“.

Dem bösen Schabernack macht erst der alte Gastarbeiter Pérez entschlossen ein Ende. Alle Welt nennt ihn nur bei seinem Vornamen, Primitivo. Mit wenigen Handgriffen zeigt er Charly, wie er den Kran bedienen kann, statt sich das Kreuz zu brechen. Dann knöpft er sich die Kollegen vor: „Der Primitivo hat ihnen ganz ruhig in seinem brachialen Spanierdeutsch gesagt, sie wären ausgemachte Lumpenseckel.”

Maurer gegen Lehrer – wer gewinnt?

Von da an nimmt der alte Spanier den jungen Schweizer unter seine Fittiche. Auf dem Bau bewährt sich Charly schnell, aber sonst drückt das Leben den „Stift“ – so das Schweizer Wort für Lehrling –, wo es einen 17-Jährigen halt drückt: „Dort bei dem Fest war eine, bei der ich schon lange landen wollte.” Doch da ist er nicht der einzige, denn die zauberhafte Laurence, „mit nem leicht gelangweilten Ausdruck im Gesicht, so wie die junge Simone Signoret“, geht ausgerechnet mit dem Graber vom Lehrerseminar, „selbsternannter Kunstfotograf, Besserwisser, Streber“, und wie soll da ein kleiner Maurer eine Chance haben?

Da tun die Gespräche mit Primitivo, den sie auch „den alten Philosophen nennen“, besonders gut, und dabei geht es keineswegs nur um Liebe und Herzeleid, auch wenn der Spanier Lyrik und Tango liebt. Primitivo, der im Alter von zwölf Jahren in Bergwerken zu arbeiten begonnen hatte, erzählt Charly über den Spanischen Bürgerkrieg, den Zweiten Weltkrieg, seine Jahre in Südamerika und eine schicksalhafte Begegnung mit geflüchteten Nazis, allen voran KZ-Arzt Josef Mengele. Von Primitivo lernt Charly über Krieg, Ausbeutung und Freiheitskampf – gewaltige Umwälzungen, von denen ein junger Mann in der Schweiz des Jahres 1982 nicht den Hauch einer Vorstellung hat.

Und Piazzollas Bandoneón weint dazu

Hierher war Primitivo nach Jahren in Frankreich, Kanada, Mexiko und Uruguay gekommen. Den Traum von der Heimkehr nach Asturien hat er mittlerweile aufgegeben: „Der, der geht, verliert seine Heimat.“ Seit er in Uruguay bei einem Bankenkrach seine Ersparnisse verlor, wechselt er seinen Wochenlohn in Dollar und versteckt ihn unter dem Kopfpolster. Auch das vertraut er Charly an, wenn sie bei einem eiskalten Glas Weißwein in seiner kargen Hütte sitzen und im Hintergrund Piazzollas Bandoneón weint.

Als Primitivo völlig unvermittelt bei einem Arbeitsunfall ums Leben kommt, ist die Bautruppe vor Schock wie gelähmt. Weil keiner dem alten Spanier so nahe stand wie er, bekommt Charly die Aufgabe, sich um seine Beerdigung zu kümmern: „Aber der Primitivo ist doch niemals in die Kirche gegangen“, weiß er. Am Wochenende geht Charly wieder mit seinen Kumpeln auf Feste und kippt sich Schnaps ins Bier, um sich Mut anzutrinken. Das Leben geht weiter, aber es ist nicht mehr dasselbe.

Pedro Lenz hat mit „Primitivo“ ein schmales, aber wunderbares Buch geschrieben. Er greift dabei nach eigenen Aussagen großzügig auf eigenes Erleben zurück. Sein Vater war Schweizer, seine Mutter Spanierin. Nachdem er die Schule abgebrochen hatte, erlernte er den Beruf des Maurers. Später begann er zu schreiben. Dank der hervorragenden Übersetzung aus dem Schweizerdeutschen von Uwe Dethier wissen nun auch wir, warum Lenz heute der populärste Mundartautor der Schweiz ist.

Pedro Lenz: „Primitivo“, übersetzt von Uwe Dethier, Kein & Aber-Verlag, 236 Seiten, 23,50 EUR
Pedro Lenz: „Primitivo“, übersetzt von Uwe Dethier, Kein & Aber-Verlag, 236 Seiten, 23,50 EUR

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