Seit 1992 ­produziert WB Form den „Ulmer Hocker“, auch in Farben mit Max-Bill-Stempel-Signatur. 
Designgeschichte

Der „Ulmer Hocker“: Eine Ikone aus drei Brettern

Auch die Gesellschaft ist ein Entwurf, den man gestalten kann: Die Designhaltung der HfG Ulm trägt ein simples Möbelstück in die Gegenwart. 

So ein Kirchturm hätte auch Potenzial. So ganz grundsätzlich. Aber spitz und hoch allein, das qualifiziert noch nicht zwangsläufig zur Ikone. Auch wenn der Turm die anderen Dächer Ulms besonders imposant überragt. Ein anderes Stück gebaute Umwelt aus Ulm hat sich dafür tatsächlich eingeschrieben in die Liste der Ikonen. Dafür genügten drei Bretter und ein Rundstab, der alles stabilisiert. Dazu noch eine eingängige Erzählung von „Not“, die wieder einmal ziemlich „erfinderisch“ machte. Schon war nicht nur ein grundsolider simpler Hocker fertig, sondern auch ein wenig „Mythos“, der das Ganze umrankt. Jedenfalls hat sich da ein Möbel wohl für ewig mit dem Toponym „Ulm“ verbunden. Vor allem in der Designgeschichte. Denn in dieser hat er als unangezweifeltes Manifest einer Designhaltung seinen Platz. Auch wenn er nie explizit als Botschafter aus der Holzwerkstatt der HfG Ulm, der Hochschule für Gestaltung, entsandt war. Der Leiter des HfG-Archivs, Martin Mäntele, nennt den Hocker, der viel mehr war als das, ein „dienendes Möbel“. Als er 1954 entstand, diente er vor allem einem: dem Zweck. Schließlich war der Entwurf eine Reaktion auf die herrschenden Bedingungen.

In der Nachkriegszeit waren die Ressourcen knapp, die Städte waren Schuttberge. Doch dazwischen blitzten doch ein paar Menschen mit hellem Idealismus auf, in einem Deutschland, das der Nationalsozialismus so vehement eingedüstert hatte. Etwa Inge Scholl, die Schwester von Sophie Scholl, der Widerstandsaktivistin im Dritten Reich. Oder auch Otl Aicher und der Schweizer Max Bill. Sie gründeten gemeinsam die HfG Ulm, im Jahr 1953. Ihre finanzielle Basis war die Geschwister-Scholl-Stiftung, die Inge Scholl in Andenken an ihre Geschwister eingerichtet hatte. Ein Gestaltungslabor, in dem so einige Disziplinen zusammenfinden sollten, entstand. Mit einer impliziten Gestaltungsaufgabe, der schwierigsten und wichtigsten zugleich: der Gesellschaft. Gerade in einer Zeit, in der die kreativen Milieus zerrüttet waren, genauso wie die moralischen Instanzen und die Kraft des freien Denkens. Und die HfG Ulm sah es ungefähr so, wie Manfred Mäntele erklärt: „Gestalterische Entscheidungen sind auch moralische Entscheidungen“. Das klingt ja beinahe nach der Gegenwart, in der die „Guten“ in der Gestaltung noch gefragter werden. Vor allem, wenn sie sich des Planeten und ­seines Klimas annehmen.

Martin Mäntele ist seit 2013 Leiter des HfG-Ulm-Archivs und kuratiert laufend Ausstellungen im Haus. 
Martin Mäntele ist seit 2013 Leiter des HfG-Ulm-Archivs und kuratiert laufend Ausstellungen im Haus. Max Braun

Einfachheit

Gestaltung als operatives Werkzeug einer politischen Haltung also. Und das quer durch die Disziplinen, vom Städtebau über visuelle Kommunikation bis zu einer, die die HfG Ulm zum ersten Mal konsequent definiert hat: das Industriedesign. Finanziell strauchelte die Institution bald, schon 1968 war sie am Ende. Doch der Idealismus, das gestalterische Engagement und die Designhaltung hallen trotzdem stark in die Gegenwart der Gestaltung hi­nein. Schließlich wird die kurze Periode der HfG Ulm gut gepflegt. Etwa in ihrem Archiv. Dieses leitet Martin Mäntele seit 2013. Ein Jahr zuvor war das Archiv in die ursprüngliche Liegenschaft zurückgekehrt, die Gebäude stehen unter Denkmalschutz. Der Schweizer Max Bill, einer der renommiertesten Gestalter seiner Zeit, hatte sie entworfen, er war der erste Rektor der Hochschule. Und gleichzeitig einer der Urheber des Möbelstücks, das die Designhaltung jener Tage noch heute ikonisch aktualisiert. Jenes kleinen Hockers, der den Turm des Ulmer Münsters an Berühmtheit überragt.

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