Im Kino

„Die Theorie von Allem“: Geschichtsreflexion mit Hitchcock-Zitaten

Jan Bülow als Physiker Johannes Leinert in „Die Theorie von Allem“.
Jan Bülow als Physiker Johannes Leinert in „Die Theorie von Allem“.Stadtkino Filmverleih
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Kaum jemand kannte Timm Kröger, bevor sein „Die Theorie von Allem“ zum Wettbewerb der Filmfestspiele Venedig eingeladen wurde. Der Film besticht unter anderem mit visuellem Einfallsreichtum.

Hunderte, wenn nicht tausende Tunnel und Bunkersysteme hat die Schweizer Armee im Zweiten Weltkrieg in den Alpen angelegt. Im Ernstfall eines deutschen Einmarschs sollte sich der harte Kern des Heeres in die Felsen zurückziehen und von dort aus die Invasion abwehren. Nun ist es ausgerechnet der Film eines Deutschen, der diesen nie benötigten, aber teilweise noch bis in die Neunziger Jahre in militärische Strategien integrierten Bergfestungen ein fiktionales Nachleben verschafft. Wobei die konkreten baulichen Ursprünge der Felsentunnel, die in Timm Krögers „Die Theorie von Allem“ eine wichtige Rolle spielen, ebenso unklar bleiben wie die Identität derer, die sich zum Zeitpunkt der Handlung – womöglich – dort verschanzen.

Der Weltkrieg ist schon eine Weile vorbei: Wir schreiben das Jahr 1962. In den Schweizer Bergen findet ein Physikkongress statt, den auch Johannes Leinert besucht, ein eigenbrötlerischer Doktorand, dessen unkonventionelles Dissertationsvorhaben (irgendwas mit Magnetwellen) ins Stocken geraten ist. Der Kongress verläuft gleichfalls nicht wie geplant: Ein mysteriöser iranischer Stargast glänzt durch Abwesenheit, die übrigen Geladenen vertreiben sich die Zeit mit akademischen Eifersüchteleien. Auch Johannes streitet sich mit seinem Doktorvater herum, wirft jedoch außerdem ein Auge auf die Pianistin.

Ein Flirt, abgeschaut aus dem Kino

Seinen ersten Flirtversuch schaut sich Johannes aus dem Kino ab, bei Alain Resnais’ „Letztes Jahr in Marienbad“. Auch vor Hitchcock-Zitaten schreckt Kröger nicht zurück in einem Film, der mehr wagt, als das deutsche Kino im Allgemeinen; der Dinge zusammendenkt, die nicht nur im deutschen Filmschaffen strikt getrennt sind: Geschichtsreflexion und Genre-Thrill, Lust an der Fabulation und einfühlsames Außenseiterporträt. Kaum einer kannte Kröger, bevor er mit dem Film, seinem zweiten, in den Wettbewerb des Filmfestivals Venedig eingeladen wurde.

Schön, dass diese Neuentdeckung so sanft und spielerisch daherkommt. Schön auch, dass der Film sich traut, so viel in der Schwebe zu belassen, nicht zuletzt die Frage, wie ernst das alles zu nehmen ist. Vielleicht gibt ja das Thema des Kongresses einen Hinweis: Auch in der theoretischen Physik mag man im einen Moment glauben, festen naturwissenschaftlichen Boden unter den Füßen zu haben, im nächsten landet man bei einer Theorie von allem. Die Raumzeit kollabiert, aber das Gesicht der verflossenen Geliebten bleibt einem auf ewig im Gedächtnis kleben.

Figuren ertrinken fast im Schwarz

Was „Die Theorie von Allem“ zu einem Unikat macht, ist sein visueller Einfallsreichtum. Fast jeder Szene fügen Kröger und sein Kameramann Roland Stuprich eine optische Idee hinzu, die einen tiefer hineinzieht. Mal setzten sich die Muster von Wolkenschlieren in Johannes’ Bettdecke fort, mal evoziert dichter Schneefall die Materialität alten, beschädigten Filmmaterials. Die Innenszenen sind oft dunkel, in den breiten Cinemascopebildern ertrinken die weich konturierten Figuren fast in einem Meer von Schwarz. In den Außenszenen öffnet sich eine rätselhafte Weite. Die schneebedeckten Berge wie auch die verwaschenen Lichtspiele am Himmel wirken einerseits erhaben, andererseits haben sie etwas Künstliches an sich. Die Natur scheint wie eine Theaterkulisse: Ein spektakulärer Rahmen für ein Spiel, dessen Regeln keiner der Spieler voll durchschaut.

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