Biografie

Lenin: Eine Neubewertung

Lenin stößt heute beim russischen Volk auf mehr Sympathien als an der Staatsspitze (Foto 1991).
Lenin stößt heute beim russischen Volk auf mehr Sympathien als an der Staatsspitze (Foto 1991).Getty Images
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Neue Erklärungen, neue Zusammenhänge: Verena Moritz und Hannes Leidinger präsentieren ihr Bild des Revolutionärs. Eine Biografie auf der Höhe der Zeit. 

Es war der Moment des Sieges, er hatte sich binnen weniger Stunden vollzogen und war gar nicht allen aufgefallen. Die Straßenbahnen fuhren am 25. Oktober 1917 in Petrograd weiter wie gewohnt, die Geschäfte waren geöffnet, man hörte nur, dass die Regierung „futsch“ sei. Ein folgenschwerer Umsturz? Wer wusste das schon so genau. Lenin, der unumstrittene Führer des Staatsstreichs der Bolschewiki, war erst wenige Tage zuvor aus seinem finnischen Versteck in die Hauptstadt gekommen. Jetzt ließ er sich, so Augenzeuge Trotzki, ausnahmsweise einmal zu persönlichen Bemerkungen hinreißen: „Der Übergang von der Illegalität und dem Umhergetriebenwerden zur Macht ist schroff. Es schwindelt einem.“ Darauf, so Trotzki, „folgte der einfache Übergang zu den Aufgaben des Tages.“

„Aufgaben des Tages“, das wurde eines der Understatements des Jahrhunderts. Es kam zur Gründung des ersten sozialistischen Staats und zu einer weltverändernden Diktatur, deren brutalem Terror Millionen Menschen zum Opfer fielen. Der Architekt dieses Staats war Lenin. Auch des Terrors und der Gewalteskalation, das werden Verena Moritz und Hannes Leidinger nicht müde zu betonen. Das Historikerehepaar hat zum bevorstehenden 100. Todestag Lenins eine monumentale Biografie vorgelegt, die Hauptarbeit dabei, so die beiden im Gespräch, hat Verena Moritz geleistet. Ihre Sprachkenntnisse ermöglichten die Auswertung der Dokumente aus russischen Archiven, solang diese zugänglich waren.

Das Buch besticht durch sprachliche Klarheit, akkurate Detailgenauigkeit, neue Einsichten und Bewertungen, durchaus auch unerwartete Zugänge. Totale und Nahaufnahmen wechseln, so werden Zusammenhänge klarer. Jedenfalls ist es weit entfernt von jeder hagiografischen Schlagseite, eine Falle, in die etwa Victor Sebestyen in seiner Biografie (2017) getappt ist. Wenig aussagekräftige Personalisierungen werden bei ­Moritz/Leidinger vermieden, sie sind ohnehin bekannt. Insofern ist ihr Buch auf der ­Höhe der Zeit, hier wird nicht abgerechnet, nicht dämonisiert und nicht glorifiziert. Uljanow und Lenin, Mensch und Mythos, Person und Theoretiker werden getrennt. Lenin wird als politischer Akteur dargestellt, den man nur aus seiner Zeit verstehen kann.  

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