Interview

Vize-Bundessprecher der Grünen: „Die große Kunst ist, verletzlich zu bleiben“

Kaineder, unter dem Baum einer Wiener Hotellobby. Am 24. ist er zu Hause in Oberösterreich.
Kaineder, unter dem Baum einer Wiener Hotellobby. Am 24. ist er zu Hause in Oberösterreich.Jana Madzigon
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Was hat Weihnachten inklusive des Motivs der Herbergssuche mit Politik zu tun? Der Vize-Bundessprecher der Grünen, Landesrat in Oberösterreich und Theologe Stefan Kaineder im Gespräch über katholische Soziallehre, Moral in der Politik und die Kirche.

Sie haben heute, kurz vor Weihnachten, in Wien zu tun, dann warten Termine in Oberösterreich. Bleibt da Zeit für Besinnlichkeit?

Stefan Kaineder: Die Zeit ist wichtig. Nicht nur für Besinnlichkeit, sondern für die Familie. Ich bin Papa von drei Kindern, für uns ist Weihnachten ein Fest der Großfamilie. Und es ist auch die Zeit für gemeinsames Musizieren und Geselligkeit.

Was bedeutet Ihnen Weihnachten – als Politiker, aber auch als Theologe?

Weihnachten ist ein Symbol dafür, dass viele große Veränderungen, viele weltumspannende Dinge im Unscheinbarsten beginnen. Es ist für mich ein Reflexionsraum, um zu fragen: Wo sind die kleinen Dinge, die man oft übersieht, die aber eine große Bedeutung dafür haben, dass uns das Zusammenleben gelingt? Das gilt für die Familie, aber auch für die Gesellschaft.

Und für die Politik. Was bringt einen Theologen eigentlich in die Politik?

Meine Leidenschaft für das Gestalten. Wenn man einen Ausbildungsweg einschlägt, denkt man nicht, dass man einmal in die Politik geht. Dass ich Mitglied der Landesregierung geworden bin, ist Zufällen geschuldet. Die Lust am Diskutieren, an der Auseinandersetzung darüber, was gescheit und richtig ist, hatte ich schon als Kind. Mein Großvater war ÖVP-Bürgermeister in einem kleinen Ort im Mühlviertel. Wir haben oft leidenschaftlich darüber diskutiert, was zu tun und zu lassen ist. Das sind hochpolitische Fragen.

Und zu welchem Schluss sind Sie gekommen?

Ein Beispiel: In den 60er- und 70er-Jahren war es in den Dörfern in Oberösterreich oft so, dass die Männer nach der Kirche ins Wirtshaus gegangen sind und die Frauen nach Hause zum Kochen. Und meine Oma hat gesagt: „Nein, so machen wir das nicht.“ Und sie hat eingeführt, dass die Frauen auch ins Wirtshaus gegangen sind. Und noch etwas habe ich mir mitgenommen: Mein Opa hat immer gesagt, du wirst im Leben mit vielen Menschen unterwegs sein, und es wird welche geben, denen ihr Rucksack zu schwer wird. Und dann hätte ich gern, dass du sagst: „Gib her deinen Rucksack, ich trag ihn dir ein Stückerl“ Dieses Wertefundament habe ich mitbekommen: Mit der eigenen Entfaltung entsteht auch eine Verantwortung für die anderen. Das hat auch viel mit Weihnachten zu tun.

Das eine Wort, das in Ihrer Beschreibung von Weihnachten nicht gefallen ist, ist Kirche. Gibt es bei Ihnen keinen Mettenbesuch?

Doch. Wir gehen auch, wenn es die Zeit zulässt, am Sonntag in die Kirche. Aber es ist ein spannendes Verhältnis, das ich zur Institution Kirche habe. Sie hat für mich einen großen Wert, wenn es darum geht, sich mit Menschen zu vernetzen, die den Grundgedanken der Solidarität, der Menschenwürde und des wirklich leidenschaftlichen ehrenamtlichen Einsatzes für Schwächere teilen. Es ist die Kirche, die Caritas, die für die Schwächsten, die Pflegebedürftigen, mit großer Hingabe arbeitet. Gleichzeitig habe ich als Feminist immer mit dieser Kirche gekämpft. Die Grundkonstitution einer offenen, demokratischen Gesellschaft kann es nicht tolerieren, dass es große Institutionen gibt, die sagen: Es gibt Führungsebenen, da können Frauen nicht hin. Und daran stoße ich mich, und ich kritisiere die Amtskirche immer wieder. Ich will eine Kirche, in der Frauen alle Türen offenstehen.

Bei den Grünen gibt es doch einige, die mit der Kirche und der Religion insgesamt wenig anfangen können. Müssen Sie Ihre Positionen dort oft rechtfertigen?

Nein. Ich erlebe das umgekehrt. Ganz viele sind gerade aus diesem Grundbedürfnis nach der Verteidigung der Menschenwürde in der grünen Bewegung und haben engen Kontakt zu verschiedensten kirchlichen Einrichtungen. Das Fundament der universellen Menschenwürde begegnet den Grünen überall in ihrer Arbeit. Auch in der Arbeit für den Klimaschutz. Das beginnt beim Papst und endet in den Pfarren, die etwa Klimabündnispfarren werden, mit einer großen Motivation für einen sorgsamen Umgang mit der Natur und dem Planeten.

Wie sieht es bei der ÖVP aus? Die vertritt etwa eine sehr restriktive Asyllinie. Wenn man das Motiv der Herbergssuche bemühen möchte, könnte man sagen: Da kommen Menschen, und wir lassen sie nicht herein. Entspricht das der katholischen Soziallehre?

Man muss aufpassen, dass man politisch sehr komplexe Fragestellungen nicht trivialisiert. Aber für christliche Menschen geht es sich grundsätzlich nicht aus, Hilfesuchenden die Hilfe zu verwehren. Es gibt in der ÖVP einige, die nach wie vor das Wertfundament einer christlichen Soziallehre haben. In der Realpolitik und in Menschenrechtsfragen wird es immer weniger gelebt. Weihnachten ist eine gute Zeit, um die ÖVP an die unverbrüchliche Würde jedes Menschen zu erinnern, egal, wo er herkommt. 

Würden Sie sagen, Politik ist generell ein unmoralisches Geschäft?

Nein, das glaube ich nicht. Auch nicht, dass man sich in der Politik eine dicke Haut zulegen muss. Die große Kunst ist, in der politischen Arbeit verletzlich zu bleiben. In Wahrheit muss uns die Verletzbarkeit von Menschen nämlich berühren. Gute politische Arbeit ist eine, die Mitgefühl auch mit Lebensentwürfen hat, die nicht gelingen. Es ist also die umgekehrte Übung: verletzlich zu bleiben, aber trotzdem leidenschaftlich und stark seine Position zu vertreten. Einen gütigen Umgang miteinander zu pflegen – auch im politischen Diskurs. Da können uns Wertefundamente, die meist in den Religionsgemeinschaften ihre Wurzeln haben, helfen.

Aber kann man in der Politik ehrlich sein?

Es ist zentral, offenzubleiben, integer zu sein und verlässlich. Wir müssen uns ehrlich bemühen, das zu erfüllen, womit wir angetreten sind. Gerade im kommenden Wahljahr gilt es, den Menschen vor Augen zu führen, welch großer Schaden entsteht, wenn populistische Kampfparolen und Egoismen plötzlich zu politischer Realität werden. Das droht in Österreich mit Herbert Kickl. Dem müssen wir eine Kultur des Zusammenhalts, der Offenheit und des wertschätzenden Umgangs miteinander entgegenstellen. Wenn wir da nicht alle aufpassen, erodiert das, was uns als Gesellschaft stark macht.  

Apropos Kickl: Man könnte argumentieren, die FPÖ setzt sich für die Aufrechterhaltung christlicher Traditionen ein, etwa für Kreuze in Klassenzimmern.

Ich habe lang genug Theologie studiert, um das für ein falsches Verständnis von Religion zu halten. Der Kern des christlichen Glaubens ist nicht der Nächstenhass, sondern die Nächstenliebe.

Weil wir über das Wahljahr sprachen: Beten Sie eigentlich für ein gutes Wahlergebnis?

Nein. Religion gibt durch verschiedene Rituale Halt in Umbruchszeiten. In meiner Familie hat Beten viel mit Dankbarkeit zu tun. Aber einen Wahlsieg muss man sich schon selbst erarbeiten.

Steckbrief

Stefan Kaineder. Der 38-Jährige ist stv. Bundessprecher der Grünen und deren Landessprecher in Oberösterreich. Seit Jänner 2020 ist er Landesrat der Landesregierung Stelzer. Kaineder wuchs im Mühlviertel auf, maturierte am bischöflichen Gymnasium Petrinum in Linz und studierte anschließend Theologie an der katholischen Privatuniversität Linz. Vor seinem Einstieg in die Politik war er in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit beim Welthaus Linz tätig. Sein Onkel ist Ferdinand Kaineder, seit 2021 Präsident der Katholischen Aktion Österreich.

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