Culture Clash

„Wohl dem, der jetzt noch Heimat hat“

Die Konflikte dieses Jahres akzentuieren die sich auflösenden Sicherheiten – und den immer mehr enthausten Menschen in ihrer Mitte.

Seit er im 19. Jahrhundert Gott marginalisiert hat, ist der Mensch auf der Suche nach dem neuen großen Ordnungsprinzip für Gesellschaft, Geschichte und den Sinn des Ganzen. Auch heute – und vielleicht wieder mehr als früher. Da heben totgeglaubte Alternativideen zum untergegangenen Abendland wie Kommunismus und Faschismus wieder ihre Häupter. Libertäre streiten mit Anti-Diskriminierern um das Kernverständnis der Gesellschaft, und Woke mit Trumpisten.

Viele der heute wettstreitenden Ordnungsideen sind dabei das, was der Soziologe Zygmunt Baumann „Retrotopien“ genannt hat: Sie suchen die Utopie in der Vergangenheit, in einer Kehrtwendung „von der Investition öffentlicher Hoffnungen in eine bessere, wenn auch unsichere und allzu erkennbar vertrauensunwürdige Zukunft hin zu einer Re-Investition in eine vage erinnerte Vergangenheit, die für ihre vermeintliche Stabilität geschätzt und daher für vertrauenswürdig gehalten wird“ – die Ideologien der Großeltern, das Palästina vor 1948, das Russland von einst, das Klima von gestern. Drängt sich das Heimelige des Vergangenen als neue Heimat auf, zeigt das, wie kalt und dunkel die Zukunft geworden ist.

Am prophetischsten war heuer daher der Zusammenprall des Konsumismus mit den Klimaklebern: Damit kündigt sich der Untergang der letzten gesellschaftsverbindenden Fortschrittsutopie an, die noch dazu von allen Ersatzreligionen der vergangenen 175 Jahre die kraftvollste und friedlichste war, nämlich der stetig steigende Volkswohlstand. Dieses formidable Mittel des Ausgleichs aller Gruppen scheint nun an sein Ende gekommen zu sein: Die Klimaangst schwingt wie eine Abrisskugel auf das völkerverbindende Ideal des immerwachsenden Konsums zu, und die Kleber sind ihre erste spürbare Druckwelle. Zudem haben die antisemitischen Ausfälle nach dem 7. Oktober gezeigt, dass unsere auf Sonderangeboten, Städteflügen und Computerspielen gegründete Kultur des gegenseitigen Inruhelassens nicht mehr alle in ihren Bann zu ziehen vermag.

Worauf also hoffen, wenn Nietzsches Verse so aktuell klingen: „Nun stehst du starr,/Schaust rückwärts, ach, wie lange schon! . . . Die Krähen schrein/Und ziehen schwirrend Flugs zur Stadt:/Bald wird es schnein,/Weh dem, der keine Heimat hat!“ Ich kann es nur für mich sagen: Meine Heimat ist der Gott, der einer von uns geworden ist im Stall von Bethlehem. Da geht es nicht um die Retrotopie des christlichen Abendlandes. Sondern darum, dass es das einfache Gute, das ein Mensch dem anderen tut, immer geben wird. Und dass am Ende alles gut sein wird.

Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

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