Gastkommentar

Warum muss Österreich die Ukraine unterstützen?

Peter Kufner
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Es gibt triftige historische und politisch-strategische Gründe, die Rückendeckung für die Ukraine auch 2024 auszuweiten.

Nach nahezu zwei Jahren russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine fragen sich noch immer viele Österreicherinnen und Österreicher, warum Österreich die Ukraine unterstützen muss. Schließlich hat sich Österreich am 26. Oktober 1955 zur immerwährenden Neutralität nach Schweizer Vorbild bekannt. Diese verbietet aber nicht Hilfslieferungen von zivilen Gütern aller Art. Es gibt für Österreich triftige historische und politisch-strategische Gründe, diese Hilfslieferungen an die Ukraine auch 2024 aufrechtzuerhalten und auszuweiten.

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Erstens: Die Ahnen der heutigen Ukrainer sind seit der habsburgischen Annexion Galiziens 1772 und der Bukowina 1775 mit den Ahnen der heutigen Österreicher verbunden. Kaiser Joseph II. ließ in Galizien und der Bukowina eine Reihe von Reformen im agrarischen, schulischen und konfessionellen Bereich durchführen, die auch wesentlich zur Modernisierung der ukrainischen Gesellschaft beitrugen.

Im Revolutionsjahr 1848 erfolgte mit der Aufhebung der Robot und des Untertänigkeitsverhältnisses auch eine Besserstellung der ukrainischen Bauern. Seit dem österreichischen Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger 1867 waren die „Ruthenen“ (der historische Name für die Ukrainer) in der österreichischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie den Deutschen, Tschechen, Polen, etc. gleichgestellt.

Es sicherte den 3.518.854 Millionen Ukrainern (1910) nicht nur Rechtsgleichheit, Glaubens- und Gewissenfreiheit und die Unverletzlichkeit ihres Eigentums, sondern auch das unverletzliche Recht „auf Wahrung und Pflege ihrer Nationalität und Sprache“. – Zur selben Zeit konnten die 22.380.000 Ukrainer im Zarenreich (1897) von solchen Rechten nur träumen. Aber auch der jetzige russische Präsident Putin wäre nicht bereit, den Ukrainern solche Rechte zuzugestehen.

Zweitens: Betritt man den alten Sitzungssaal im österreichischen Parlament, so findet man unter den 516 Abgeordneten des österreichischen Reichsrates von 1907 – der bereits nach dem allgemeinen Wahlrecht für Männer gewählt worden war – 32 Ukrainer, unter ihnen 27 ukrainophile und fünf russophile Abgeordnete. Im Herrenhaus waren die ukrainischen Bischöfe vertreten, außerdem Universitätsprofessor Ivan Horbačevs‘kyj, der 1918 sogar österreichischer Minister für Volksgesundheit wurde.

Drittens: Im Ersten Weltkrieg war das Siedlungsgebiet der Ukrainer von August 1914 bis in den Herbst 1917 Frontgebiet zwischen der k. u. k. Armee und der russischen Armee. Daher erlitten die Ukrainer nicht nur als Soldaten, sondern auch als Zivilisten schwere Verluste. Nach der russischen Niederlage Ende 1917 und dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk am 3. März 1918 besetzten nicht nur deutsche, sondern auch österreichisch-ungarische Truppen die Ukraine. Beide Mittelmächte hatten bereits die von der ukrainischen Zentralrada am 22. Jänner 1918 verkündete Unabhängigkeit der Ukrainischen Volksrepublik anerkannt.

Viertens: Aufgrund der Friedensverträge von Saint-Germain 1919 und Trianon 1920 fiel ganz Galizien an Polen, die Bukowina an Rumänien und die Karpato-Ukraine an die Tschechoslowakei. In allen drei Staaten blieben jedoch die neuen Minderheitenrechte für die insgesamt mehr als fünf Millionen Ukrainer weit hinter dem früheren Nationalitätenrecht im alten Österreich zurück.

Fünftens: Nach dem verheerenden Angriffskrieg gegen Polen teilten Hitler und Stalin den Staat am 28. September 1939 entlang der Flüsse San, Bug und Narew, ebenso die Bukowina zwischen der Sowjetunion und Rumänien, sodass nun die meisten Ukrainer unter sowjetische Herrschaft kamen.

Deutsche Wehrmacht und SS eroberten zwar 1941/42 das gesamte ukrainische Siedlungsgebiet – einschließlich der Halbinsel Krim –, gewährten jedoch den Ukrainern keinerlei Sonderrechte, sondern unterwarfen sie einer brutalen Besatzungsherrschaft. Diese war einerseits auf die materielle Ausbeutung des Reichskommissariats Ukraine, andererseits auf die Vernichtung aller Juden in diesem Gebiet ausgerichtet.

Sechstens: Mit dem Sieg der Roten Armee 1945 schob Stalin nicht nur die Westgrenze der Sowjetunion auf die Linie Königsberg/Kaliningrad–Brest-Litovsk–Lemberg/Lviv–Uschhorod vor, sondern bezog auch Ostdeutschland, die Tschechoslowakei und Ungarn in seinen Machtbereich ein.

Somit lebten nun sämtliche Ukrainer in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik, der 1954 auch die Halbinsel Krim eingegliedert wurde. Bereits 1948 entstand ein Eiserner Vorhang an der Westgrenze der DDR, der Tschechoslowakei und Ungarns, der bis in den Herbst 1989 bestehen blieb.

Siebtens: Als die Ukraine am 24. August 1991 ein zweites Mal im 20. Jahrhundert ihre Unabhängigkeit proklamierte, wurde sie ziemlich rasch von den meisten westlichen Staaten einschließlich Österreichs anerkannt. Österreichs Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft reagierten auch schnell mit neuen Kooperationen, die zum Teil an alte Verbindungen anknüpften.

Achtens: Seit Februar 2014 wird der unabhängige ukrainische Staat von Russland in seiner Existenz bedroht. Nach dem Sturz eines Russland-hörigen Präsidenten in Kiew ließ der russische Machthaber Wladimir Putin unter Bruch des Völkerrechts russische militärische Einheiten in die Ostukraine und in die Halbinsel Krim einmarschieren und beide Gebiete nach fragwürdigen Plebisziten annektieren.

Am 24. Februar 2022 erfolgte sogar ein totaler russischer Angriff auf die Ukraine, der nicht nur die Eroberung der Hauptstadt Kiew, sondern des gesamten Staatsgebietes zum Ziel hatte.

Neuntens: Die von Putin befohlene russische Kriegsführung gegen die Ukraine bricht nicht nur das allgemeine Völkerrecht, sondern auch das Kriegsvölkerrecht. Denn die Angriffe mit Flugzeugen, Raketen und Drohnen richten sich laufend gegen die ukrainische Zivilbevölkerung und die gesamte Infrastruktur des ukrainischen Staates.

Sogar Tausende ukrainische Kinder wurden nach Russland verschleppt. Somit beging und begeht die russische Führung nicht nur Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern sogar das Verbrechen des Völkermordes.

Zehntens: Auch die österreichische Bevölkerung sollte sich bewusst sein, was eine mögliche militärische Niederlage der Ukraine bedeuten könnte. Der russische Machtbereich würde sich – wie schon nach 1945 – bis an die Ostgrenze Polens, der Slowakei und Ungarns ausweiten. In Zukunft wäre mit weiteren Machtansprüchen Russlands in Richtung Mitteleuropa zu rechnen, die sehr wohl auch Österreich mit einbeziehen könnten. Daher liegt die entschiedene Verteidigung der Unabhängigkeit der Ukraine auch im Interesse Österreichs.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Der Autor

Dr. Arnold Suppan (*1945 St. Veit an der Glan), emeritierter Universitätsprofessor für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. 2011 bis 2013 und 2021 bis 2022 Vizepräsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

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