Gastkommentar

Der Kulturkampf in und um Harvard

Peter Kufner
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Amerikas Obsession mit dem Thema „Rasse“ ist einer der Gründe für das aktuelle Durcheinander an der US-Elite-Uni.

Claudine Gay, die erste schwarze Präsidentin der Harvard University, hat dem wochenlangen Druck nicht mehr standgehalten und ist zurückgetreten. In der Kontroverse, die zu ihrem Rücktritt geführt hat, macht jedoch keiner der Beteiligten eine gute Figur.

Der vorgebliche Grund für ihre Amtsenthebung war schlampiges akademisches Arbeiten und vor allem ihre Angewohnheit, beinahe wörtliche Zitate anderer Wissenschaftler in ihren eigenen Publikationen nicht als solche kenntlich zu machen. Vor diesen Entdeckungen wurden ihr jedoch vor allem Antisemitismus und Doppelmoral vorgeworfen. Auf die Frage der republikanischen Kongressabgeordneten Elise Stefanik, ob Studierende, die auf Demonstrationen „den Völkermord an Juden befürworten, gegen den Verhaltenskodex von Harvard verstoßen“, antwortete Gay dies „hänge vom Kontext ab“.

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Hätte sich die Frage auf den Völkermord an Schwarzen bezogen, hätte der Kontext ziemlich sicher kein Rolle gespielt. Allerdings tappte Gay hier in eine fiese Falle. Stefanik hatte absichtlich die Grenzen zwischen dem Ruf nach Völkermord und der Unterstützung einer palästinensischen Intifada, also eines bewaffneten Widerstands, verwischt. Letztere billigt zwar unter Umständen Gewalt, aber keinen Völkermord.

Unerbittliche Kampagne

Die rechtsextremen Aktivisten, die zu Gays Sturz beigetragen haben, stehen nicht besser da. Christopher Rufo vom Manhattan Institute und alle, die sich hinter ihn scharten, sehen ihre Karriere als Symbol eine unfairen Bevorzugung aufgrund ihrer Rasse. Ihnen wirf Gay ihrerseits Rassismus vor. Aber selbst, wenn sie keine Rassisten sind, eifern sie sogenannten Progressiven nach, die jeden, der nicht ihre eigenen ideologischen Positionen vertritt, am liebsten „canceln“ würden.

Und auch reiche Juden, die Harvard viel Geld gespendet haben, wie der Hedge Fund-Manager Bill Ackman, geben mit ihrer unerbittlichen öffentlichen Kampagne gegen Gay kein gutes Bild ab. Spenden geben niemandem das Recht, sich in akademische Angelegenheiten zu mischen. Auch Ackman unterstellt Gay Rassismus und argumentiert, Harvard toleriere Judenhass.

Ganz klar ist Amerikas Obsession mit dem Thema Rasse einer der Gründe für dieses unerfreuliche Durcheinander aus Beschuldigungen und Gegenbeschuldigungen. Trotzdem zeigt Gays Rauswurf, ebenso wie jener der Präsidentin der Universität von Pennsylvania, Liz Magill, die Stefanik ebenfalls in die Falle gegangen war, etwas Interessantes über die veränderte Wahrnehmung von Juden.

Es gibt keine Beweise, dass Gay, Magill oder die meisten pro-palästinensischen Demonstrierenden an den Universitäten Antisemiten sind. (Bei offenen Hamas-Anhänger sieht das womöglich anders aus). Allerdings sind die besonders fanatischen Verteidiger der palästinensischen Sache genauso auf das Thema „Rasse“ fixiert, wie die ultrarechten Agitatoren auf ihren Kampf gegen jede Maßnahme für „Diversität, Gleichstellung und Inklusion“. Für sie ist die Gewalt im Gazastreifen und die Unterdrückung der Palästinenser in Israel ein weiteres Beispiel für White Supremacy.

„Ihr seid alle das Gleiche!“

Aus ihrer Sicht sind Israelis Weiße, die People of Color brutal tyrannisieren. Nur darum schreien pro-palästinensische Demonstrierende Slogans wie „IDF, KKK, Ihr seid alle das Gleiche!“ – als gäbe es keinen Unterschied zwischen israelischen Soldaten und den vermummten Rassisten, die früher in den Südstaaten Schwarze lynchten. Dass die meisten Israeli aus arabischen Ländern stammen und sich äußerlich von der arabischen Bevölkerung nicht unterscheiden, scheint keine Rolle zu spielen.

Das ist in der langen Geschichte des Antisemitismus eine völlig neue Variante. Vor dem 19. Jahrhundert verfolgen Christen die Juden als angeblich Christusmörder. Nach der Gründung der modernen Nationalstaaten waren Juden religiös und sozial zunehmend gleichberechtigt und es wurden angeblich biologische Unterscheidungsmerkmale erfunden, um den alten Hass zu rechtfertigen. Europäische und amerikanische Rassisten sahen die Juden gerade nicht als Weiße, wie sie selbst, sondern als fremde Rasse.

Allerdings hingen Antisemiten jeder politischer Richtung dem Verschwörungsglauben an, Juden bildeten eine geheime globale Elite, die hinter den Kulissen enorme Macht ausübt. Für rechte Antisemiten waren Juden bolschewistische Verschwörer, die die Reinheit der Völker bedrohen. Kommunisten sahen in ihnen kapitalistische Plutokraten, die die Arbeiterklasse unterdrücken. Der Zionismus war für viele Juden vor allem deshalb so attraktiv, weil ein eigener Staat sie endlich von der andauernden Verfolgung als Außenseiter oder, wie Stalin sie nannte, „Kosmopoliten ohne Wurzeln“ schützen sollte. In Israel wollten sie endlich Wurzeln schlagen können.

Wandlung Israels

Wie manche Kritiker Israels schon früh erkannten, führte dies jedoch dazu, dass Israel nach und nach einige derselben Eigenschaften entwickelte wie die Nationen, in denen Juden früher verfolgt wurden: die Idee einer völkische Exklusivität, Chauvinismus und Militarismus. So war Hannah Arendt in den 1940er Jahren noch Zionistin, verfolgte dann aber sehr kritisch, wie der Staat für Juden zu einem jüdischen Staat wurde, das heißt nicht zu einem Zufluchtsort für verfolgte Flüchtlinge, sondern zu einem Land, in dem ein ethno-religiöser Nationalismus und ein mit der jahrhundertelangen Opferrolle begründetes Gefühl der moralischen Unanfechtbarkeit herrschten.

Diese Wandlung geschah nicht über Nacht. Viele Siedler der ersten Stunde waren linke Idealisten. In der aktuellen israelischen Regierung aber sitzen offen rassistische Minister. Itamar Ben-Gvir, der Minister für nationale Sicherheit, wurde schon wiederholt wegen Volksverhetzung verurteilt. Schon aus diesem Grund ist Israel heute für rechtsextreme Politiker in Europa und den USA ein bewundertes Vorbild. In den 1930er Jahren zeigten viele „Amerikanische Patrioten“ wie der gefeierte Pilot Charles Lindbergh mehr als nur ein bisschen Sympathie für Nazi-Deutschland. Heute sind Donald Trump und manch andere, die „America First“ brüllen, leidenschaftliche Bewunderer des jüdischen Staates. Das wiederum erklärt, warum so viele Aktivisten an den Universitäten die Israelischen Verteidigungskräfte (englisch Israel Defense Forces, IDF) mit dem Ku-Klux-Klan vergleichen.

Früher assoziierten Antisemiten Juden mit den USA, weil beide in den Augen europäischer Nationalisten für einen Kosmopolitismus ohne Wurzeln standen. Heute assoziieren pro-palästinensische Demonstrierende Israel mit den USA, weil beide Länder in ihren Augen die Unterdrückung von People of Color durch Weiße symbolisieren. Vielleicht meinte Gay diesen Kontext, als sie versuchte, Stefaniks Fangfrage zu beantworten. Es wäre schön gewesen, hätte sie sich dabei weniger ungeschickt ausgedrückt. Und es wäre schön, wenn die USA und ihre führenden Bildungseinrichtungen ihre Besessenheit von der Rassenfrage überwinden könnten.

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Der Autor:

Beigestellt.

Ian Buruma (*1951 in Den Haag) studierte chinesische Literatur in Leiden und japanischen Film in Tokio. Er ist Autor, zuletzt erschien: „The Collaborators: Three Stories of Deception and Survival in World War II“ veröffentlicht (Penguin, 2023).

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