Porträt

Sandra Hüller: Ganz uneitel ins Oscar-Rennen

Ausgezeichnet wurde Sandra Hüller schon oft, zuletzt 2023 mit einem Europäischen Fimpreis (im Bild zu sehen).
Ausgezeichnet wurde Sandra Hüller schon oft, zuletzt 2023 mit einem Europäischen Fimpreis (im Bild zu sehen).Imago
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Verdient gehabt hätte sie es schon für ihre Rolle in „Toni Erdmann“. Nun könnte Sandra Hüller, Deutschlands beste Filmschauspielerin, Hollywoods Preis-Jackpot knacken.

„Mein Privatraum ist mein Privatraum, und das bleibt auch so“, stellte Sandra Hüller vergangenes Jahr bei einem Gespräch mit der „Presse“ fest. Eine Schauspielerin, die so gar nicht daran interessiert ist, ihr „authentisches Selbst“ ins Rampenlicht der sozialen Medien zu rücken, die Beruf und Privates unmissverständlich trennt: Das ist dieser Tage nicht unbedingt die beste Rezeptur für eine Star-Karriere. Star sein, das war ohnehin nie Hüllers Ziel. Aber jetzt ist es ihr doch unterlaufen: Spätestens seit Justine Triets brillantes Gerichtsdrama „Anatomie eines Falls“ in Cannes die Goldene Palme gewann, braust der Aufwind um Hüller mit Orkanstärke.

Nicht dass sie vorher eine Unbekannte war. Aber ihr Nimbus als womöglich beste deutsche Filmschauspielerin ihrer Generation beschränkte sich in erster Line auf die Cineastenkreise Europas. In den vergangenen Monaten ging es nun Schlag auf Schlag. Im Dezember wurde Hüller beim Europäischen Filmpreis als beste Darstellerin ausgezeichnet. Kurz darauf setzte es Ehrungen von zwei wichtigen US-Kritikerverbänden – und eine „Best Actress“-Nominierung bei den Golden Globes, in der illustren Gesellschaft von Stars wie Annette Bening und Carey Mulligan.

Hüller ging bei den Globes zwar leer aus, aber Triets „Anatomie eines Falls“ konnte zwei Preise für sich verbuchen. Auch nominiert war die britische Holocaust-Täterstudie „The Zone of Interest“, in der Hüller eine der Hauptrollen spielt. Die internationale Aufmerksamkeit für die 45-Jährige aus Thüringen befindet sich auf einem Höhepunkt. Das Branchenblatt „Hollywood Reporter“ fragte bereits im Herbst in einer Titelgeschichte: „Sandra Hüller, Schauspielerin des Jahres?“

Zugleich verkrampft und impulsiv

Das Fragezeichen muss man nicht kritisch lesen. Es passt perfekt zu Hüllers Rollenfach der stets Uneindeutigen. In einer Zeit, in der das Symbol- und Typenhafte regiert, lassen sich ihre Filmfiguren selten auf eine Interpretation reduzieren. Das floskelhafte Adjektiv „vielschichtig“ trifft auf sie wirklich zu. Und paart sich mit einer emotionalen Intensität, die nicht nur im deutschen Film ihresgleichen sucht, weil ihr das Deklamatorische fehlt – obwohl Hüller vom Theater kommt.

„Requiem“ (2006), Hüllers Durchbruch auf der Leinwand, hat die Bezeichnung verdient. Was für eine Wucht, im Leisen wie im Lauten! Hüller spielt eine Studentin aus tiefster Provinz und streng katholischem Hause, deren psychische Labilität in einen verhängnisvollen Exorzismus mündet. Ein Drama, bei dem nie ganz klar ist, ob die Protagonistin selbst an den Teufel glaubt oder ob sie die Besessenheit nur vorschützt, weil sie ihren eigenen Freiheitsdrang nicht akzeptiert.

Gefangen im eigenen Leben, das ist auch Ines aus „Toni Erdmann“, Hüllers zweite große Kinofigur. Die ehrgeizige Unternehmensberaterin liefert sich ein Pas de deux mit ihrem alternden Vater (Peter Simonischek), das auf der Suche nach Offenheit zwischen Hemmung und Enthemmung pendelt – und in einer aberwitzigen Partyszene kulminiert, in der Hüller komplett aus sich herausgeht. Die Begeisterungsstürme, die Maren Ades Tragikomödie damals in Cannes provozierte, machten sie erstmals in Übersee bekannt.

Beide mimischen Pole, das Verkrampfte, Verlegene und das Impulsive, Eruptive, beherrscht Hüller aus dem Effeff. Die Oscar-Nominierung als beste Schauspielerin, die ihr am Dienstag zuteil wurde, verdankt sie wohl eher Letzterem: Man kann sich denken, welche Szene aus „Anatomie eines Falls“ am 10. März bei der Verleihung laufen wird. Sollte Hüller gewinnen, wäre sie nebst Anna Magnani und Marion Cotillard eine der wenigen nicht englischsprachigen Frauen, die die Trophäe erhalten haben. Man darf und soll es der uneitlen Vielarbeiterin wünschen – in der frommen Hoffnung, dass sie ihren Privatraum dadurch nicht verliert.

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