Literatur aus Indien

Rijula Das: Die Algebra der Not

Rijula Das beschäftigte sich auch wissenschaftliche mit sexueller Gewalt in Indien.
Rijula Das beschäftigte sich auch wissenschaftliche mit sexueller Gewalt in Indien. Foto: subAlpine
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In Shonagachi, dem größten Rotlichtviertel Asiens, sind Verschleppungen und Morde an der Tagesordnung. Rijula Das gibt mit ihrem Debütroman „Die Frauen von Shonagachi“ erschütternde Einblicke in den Alltag der Sexarbeiterinnen, der von Gewalt, Menschenhandel und Korruption geprägt ist.

Shonagachi, ein Stadtteil im Norden von Kalkutta, gilt als größtes Rotlichtviertel Asiens mit etwa 10.000 Sexarbeiterinnen. Dort hat Rijula Das ihren Debütroman „Die Frauen von Shonagachi“ angesiedelt, vordergründig ein Krimi, der sich jedoch als vielschichtiger und vielstimmiger Roman entpuppt, in dem enormes Detailwissen steckt.

Schreie aus dem Nebenzimmer

„Es war eine komplizierte Gleichung, die Algebra der Not in Shonagachi“ schreibt Rijula Das, als von dem Verhältnis zwischen Zuhälter und Sexarbeiterin die Rede ist. Denn der ist gleichzeitig Unterdrücker und Retter. Lalee, die seit ihrer Kindheit im „Blauen Lotus“ arbeitet, weiß um die Geschichten von Frauen, die „gefoltert, geschunden und angezündet“ wurden, „und jedes Mal war Lalee bewusst, dass sie den Impuls nur allzu gut kannte, der Leute dazu trieb, nach dieser speziellen Art Befriedigung zu suchen.“ Gleich am Anfang des Romans, als Lalee einen ihrer Stammkunden empfängt, sind Schreie aus dem Nebenzimmer zu hören. Im nächsten Moment ist Mohamaya tot, eine ihrer Kolleginnen, brutal ermordet mit Säure, die ihr eingeflößt wurde. Die Polizei verspürt wenig Motivation, um zu ermitteln. Dass Frauen getötet werden oder verschwinden steht immerhin an der Tagesordnung. Doch dieses Mal soll es dennoch anders kommen. Dank einer Menschenrechtsorganisation können sich die Sexarbeiterinnen organisieren und protestieren so lange vor dem Polizeipräsidium, bis die Medien das Thema aufnehmen.

Als Kind zur Prostitution gezwungen

Es ist jedoch weniger eine Ermittlung, der wir auf den gut 300 Seiten folgen, sondern vielmehr eine literarische Alltagsstudie, die sich in allen Facetten der Lage der Sexarbeiterinnen widmet – ohne die komplexen Zusammenhänge auszulassen. Denn als die staatlichen Maßnahmen auf Razzien abzielen, stellt sich wiederum die Frage, was aus den Frauen werden soll, die jahrelang in sklavenähnlichen Verhältnissen gelebt haben.

Um zu einem möglichst umfassenden Panorama zu gelangen, entfaltet Rijula Das ein vielstimmiges Figurenrepertoire und lässt uns die Geschichte einmal aus dieser und einmal aus jener Perspektive erleben, etwa aus der Sicht von Deepa Marhatta, der Leiterin einer NGO, von Tilu, einem Freier, der Erotikromane schreibt, und sich in Lalee verliebt hat, von Polizisten und Zuhältern – und vor allem von Lalee, die seit ihrer Kindheit im Blauen Lotus arbeitet. Freiwillig hat sie diesen Beruf nicht ergriffen. Als ein Freier sie einmal bittet, ihm ihre Geschichte zu erzählen, erfahren wir, dass ihre Tante sie – als Minderjährige – um 5000 Rupien verkauft hat. Zwar hält sie vorher für uns Lesende fest, dass sie nie ganz die Wahrheit preisgibt, wenn sie derlei Fragen gestellt bekommt – immerhin sei ihre wahre Lebensgeschichte ihr letzter privater Winkel – doch sie greift auf die Geschichten zu, die die meisten Frauen in Shonagachi teilen, die oft als Kinder schon zur Sexarbeit gezwungen wurden. Ein Ausstieg aus diesem Leben ist nicht möglich, zu groß sind die Abhängigkeiten, zu gefährlich die Verstrickungen.

Angst als ständiger Begleiter

Als Lalee nach Mohamayas Tod in der Gunst von Shefali Madam, der Leiterin des „Blauen Lotus“, steigt, und VIP-Kunden betreuen soll, erfahren wir Lesende einmal mehr, was dieses Leben in Abhängigkeit bedeutet. Denn Lalee hat über ihre Spezialaufträge so gut wie keine Information im Vorfeld. Sie wird bloß von einem Zuhälter in ein Hotel chauffiert und vor vollendete Tatsachen gestellt. Trotz der dicken Haut, die sie sich zugelegt hat, ist die Angst ihr ständiger Begleiter.

Rijula Das, die sich auch wissenschaftlich mit sexueller Gewalt in Indien beschäftigt hat, lässt viele zeithistorische Fakten in ihren Roman einfließen. Etwa die Folgen des Notebandi, der Demonetarisierung in Indien im Jahr 2016, im Rahmen derer über Nacht alle 500 und 1000-Rupien-Scheine ihre Gültigkeit verloren – in vielen Fällen war ein Umtausch in der Bank innerhalb einer zu kurzen Frist nicht mehr möglich. Für die Sexarbeiterinnen von Shonagachi hatte das katastrophale Folgen.

Mit „Die Frauen von Shonagachi“ schafft Rijula Das ein detailreiches Bild einer von Menschenhandel, Gewalt und Femiziden geprägten Sexindustrie.

Die Frauen von Shonagachi
Rijula Das
übersetzt von Else Laudan
336 Seiten, Ariadne Verlag
24,50 Euro

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