Gastkommentar

Europa muss sich rechnen

Peter Kufner
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Bald sind Europawahlen. Die europäische Integration rechnet sich für ihre Mitglieder, aber sind die Nettovorteile groß genug?

Ohne die zahlreichen wirtschaftlichen Vorteile der Europäischen Union wären wir deutlich ärmer. Aktuelle Berechnungen zeigen einen positiven Nettoeffekt der EU-Integration von circa acht Prozent für Österreich, wobei der Löwenanteil aus dem Binnenmarkt stammt. Diese Zahlen sind modellbasiert, aber das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU bietet eine Möglichkeit der Validierung. Modell und empirische Daten zeigen einen Verlust in der Höhe von circa drei Prozent der Wirtschaftsleistung für das Vereinigte Königreich, und das, obwohl das Land nach Deutschland über den größten eigenen Markt in Europa verfügt und daher weniger vom grenzüberschreitenden Handel abhängig ist.

Die europäische Integration rechnet sich also für die Mitglieder. Aber sind die Nettovorteile groß genug? Das ist wichtig, denn die europäische Einigung bringt auch Kosten mit sich, und zwar nicht nur den Nettobeitrag zum Budget, der in der obigen Rechnung bereits eingebaut ist. Die Mitgliedstaaten haben in wichtigen Bereichen – in Regulierungsfragen, im Außenhandel oder in der Geldpolitik – Kompetenzen an die EU abgegeben. Die gemeinsame Politik entspricht dann aber nicht immer exakt den heimischen Präferenzen. Umso wichtiger ist es, den Mehrwert der EU zu maximieren. Es gäbe einige wichtige Themenfelder, wo der Wert der EU für uns alle noch deutlich größer sein könnte.

Mehrwert der EU maximieren

Das ist ein altes Problem, das sich auch innerhalb von Nationalstaaten stellt. Um es zu minimieren, muss sich die übergeordnete Gebietskörperschaft auf jene Aufgaben beschränken, bei denen die Vergemeinschaftung einen echten Mehrwert erzeugen kann. Damit ist das viel beschworene Subsidiaritätsprinzip angesprochen. Wendet man es konsequent an, finden sich Politikbereiche, in denen die Mitgliedstaaten wieder mehr Verantwortung übernehmen sollten, etwa bei der Förderung der Landwirtschaft. In viel mehr Bereichen braucht es aber mehr Europa, weil wichtige Gemeinschaftsgüter bisher unzureichend bereitgestellt werden und damit Potenzial für europäischen Mehrwert ungehoben bleibt. Gemeinschaftsgüter sind dadurch charakterisiert, dass sie nicht nur lokal dort, wo investiert wird, Wirkung entfalten, sondern in der ganzen EU. Nach dem Subsidiaritätsprinzip gehören solche Güter auf EU-Ebene bereitgestellt. Der theoretische Nutzen ist allerdings nicht genug. Es ist zentral, dass der Mehrwert für möglichst alle Europäerinnen und Europäer klar verständlich und erlebbar ist.

Das beginnt mit der für den Binnenmarkt so wichtigen Infrastruktur. Die höchstrangigen Strom- und Gasnetze, Schienenwege, Straßen und Wasserstraßen sollten europäisiert werden, denn Lücken in Grenzregionen gefährden die Versorgungssicherheit aller in Europa. Bisher ist der Anteil der Mittel, die in diese Bereiche gehen (Connecting Europe), minimal. Im Jahr 2020 ging es um 0,012 % der Wirtschaftsleistung der EU, 2021 um 0,015 % und 2022 um 0,017 %.

Ein anderer Bereich betrifft Forschung und Wissenschaft. Mit dem Brexit hat die EU Top-Forschungsplätze wie Cambridge oder Oxford verloren. Die beste europäische Universität im Shanghai-Ranking ist auf Platz 15 die Université Paris-Saclay. Schon gehört? Sie entstand erst 2020 durch den Zusammenschluss verschiedener französischer Forschungseinrichtungen, die jede für sich bisher keine Chance im internationalen Wettbewerb um die besten Köpfe hatten. Solche Projekte braucht es auch auf EU-Ebene. Warum nicht die besten Technischen Universitäten zusammenfassen? Man könnte dafür das bereits existierende European Institute of Innovation and Technology um eigene Forschung und Ausbildung erweitern. Und dazu sollte auch europäisches Geld eingesetzt werden, denn die Vorteile von Spitzenuniversitäten in der EU kommen allen Europäern zugute.

Und schließlich müssen wir über Sicherheit sprechen. Viele Studien zeigen, dass die Abschaffung von Personenkontrollen an den EU-Binnengrenzen durch das Abkommen von Schengen positive wirtschaftliche Effekte hat, etwa für Urlauber und Pendler, aber auch für den Güterverkehr. Dieser Mehrwert wird in Umfragen stark bestätigt. Aber eine Voraussetzung dafür ist, dass die EU-Außengrenzen wirksam geschützt werden. Das ist bisher nicht ausreichend der Fall, sodass es immer wieder teure Binnenkontrollen braucht. Werden diese dank sicherer Außengrenzen unnötig, wird der europäische Mehrwert offensichtlich.

Das Budget für die EU-Grenzschutzagentur Frontex ist seit 2021 stark angehoben worden, aber 850 Millionen Euro im Jahr 2023 bei einer Gesamtlänge der Schengen-Außengrenze von mehr als 50.000 Kilometern sind viel zu gering. Klar, die Bereitstellung von Gemeinschaftsgütern kostet Geld. Aber ihre gemeinsame Erbringung ist mit Einsparungen auf nationaler Ebene verbunden, sodass dort Mittel für andere Verwendungen frei werden oder Steuern gesenkt werden können. Die Einsparungen durch ein Ende der Kontrollen an den EU-Binnengrenzen könnten in Summe mehr Mittel freimachen, als man für einen effektiven Schutz der Außengrenzen braucht.

Europa muss ein Erfolg bleiben

Konzentriert sich die EU auf die Bereitstellung europäischer Gemeinschaftsgüter, dann steigt der Nettonutzen für die Bürgerinnen und Bürger beinahe automatisch. Es gibt noch zwei weitere gewichtige Vorteile: Ein Vorteil ist, dass sich mit solchen Projekten gut Regionalpolitik machen lässt. Investitionen in den Grenzschutz kommen vor allem den strukturschwachen Regionen an der Peripherie der EU zugute. Ähnliches gilt für viele grenzüberschreitende Infrastrukturprojekte innerhalb Europas. Europäische Universitäten könnten dort angesiedelt werden, wo zusätzliche wirtschaftliche Impulse am sinnvollsten sind. Damit könnten andere, weniger auf den EU-Mehrwert abzielende Kohäsionsprogramme reduziert werden.

Der zweite wichtige Vorteil: Werden europäische Gemeinschaftsgüter auch europäisch finanziert, braucht es dafür ein entsprechendes EU-Budget, das über das bisher eine Prozent des EU-BIPs hinausgeht. Genau das fordern viele makroökonomische Analysen, um die Währungsunion zu stabilisieren. Wenn die EU-Beiträge der Mitglieder mit der Konjunktur schwanken, weil sie z. B. an die Mehrwertsteuererträge gebunden sind, die Erbringung der Gemeinschaftsgüter aber stetige Ausgaben erfordert, erfolgt dadurch ein automatischer Ausgleich ungleichmäßiger Konjunkturverläufe. Und wenn man zuließe, dass die EU im normalen Haushalt ihr Budget nur langfristig anstatt jährlich ausgleichen muss, könnten sogar allgemeine makroökonomische Störungen ausgeglichen werden. 

Unser wirtschaftliches Wohlergehen und unsere Sicherheit in einer in Unordnung geratenen Welt hängen daran, dass Europa ein Erfolg bleibt. Damit dies gelingt, muss der Fokus auf Schaffung von Mehrwert gelegt werden. Wird Europa nur als Vehikel für Umverteilung und neue Schulden wahrgenommen, droht es die Unterstützung der Menschen zu verlieren. Das wäre ein großes Problem. Wir haben nur dieses eine Europa und sind daher zum Erfolg verdammt.

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Der Autor:

Alexander Müller

Gabriel Felbermayr (*1976 in Steyr) ist seit 2021 Direktor des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (Wifo) und Professor an der WU Wien. Demnächst erscheint sein Buch „Europa muss sich rechnen“ mit einem Vorwort von Hannes Androsch (Brandstätter Verlag, 152 Seiten, 20 Euro).

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