Gastkommentar

Die größte Bedrohung ist die Religion in der Politik

Peter Kufner
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Streitigkeiten über Steuern und Co. können zwischen politischen Parteien beigelegt werden. Heilige Angelegenheiten nicht.

Am 22. Jänner weihte der indische Premierminister, Narendra Modi, den Ram Mandir ein, einen riesigen neuen Hindu-Tempel in Ayodhya. In der Rolle „des Hohepriesters des Hinduismus“, wie es sein Biograf ausdrückt, brachte Modi einer Statue von Ram, einer der am meisten verehrten Hindu-Gottheiten, die an diesem heiligen Ort geboren worden sein soll, Opfergaben und Segenswünsche dar.

Für Modi und seine regierende Bharatiya Janata Party ist der Tempel außerdem ein starkes politisches Symbol: Er wurde auf den Ruinen einer Moschee aus dem 16. Jahrhundert errichtet, die hindunationalistische Mobs, angestachelt von BJP-Führern, 1992 zerstörten und damit sektiererische Unruhen auslösten, bei denen 2000 Menschen starben.

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Modi verspricht, ein „neues Indien“ zu schaffen, womit er ein hinduistisches Indien meint, in dem die mehr als 200 Millionen Muslime des Landes als Eindringlinge betrachtet werden. Tatsächlich ist diese vorsätzliche Vermischung von Religion und Politik in Indien verfassungswidrig. Der erste Premierminister des unabhängigen Indiens, Jawaharlal Nehru, sowie der politische und spirituelle Führer Mahatma Gandhi erkannten, wie brisant religiöse Konflikte in einer multireligiösen und multiethnischen Gesellschaft sein können, weshalb sie darauf bestanden, dass Indien ein säkularer Staat sein sollte.

Brisante religiöse Konflikte

Die Bestrebungen, den säkularen Staat zu untergraben, begannen lang vor Modis Zeit. Der Mann, der Mahatma Gandhi ermordete, war Mitglied der Rashtriya Swayamsevak Sangh, einer paramilitärischen hindunationalistischen Organisation mit Verbindungen zur BJP, die eine wichtige Rolle bei der Zerstörung der Moschee in Ayodhya spielte. 1986 griffen Hindu-Agitatoren die fehlgeleitete Entscheidung des damaligen Premierministers, Rajiv Gandhi, auf, den muslimischen Forderungen nachzugeben und zuzulassen, dass das islamische Recht ein Urteil des Obersten Gerichtshofs außer Kraft setzt, das das Recht muslimischer Geschiedener auf Unterhaltszahlungen über 90 Tage hinaus bestätigt. Diese Agitatoren nutzten dieses Sondergesetz, um schwelende Hindu-Ressentiments zu schüren, und rückten den Hindunationalismus vom Rand in den Mittelpunkt der indischen Politik.

Indien, das mittlerweile bevölkerungsreichste Land der Welt, wählt in diesem Jahr. Modis Politik steht in diesem Jahr also mehr im Fokus als sonst. Leider ist Modi nicht der Einzige, der sich dieser Form der Vermischung von Religion und Politik gern bedient. So unwahrscheinlich es für einen vulgären Sexualstraftäter auch erscheinen mag, wird der ehemalige US-Präsident Donald Trump von seinen Anhängern als Retter des Christentums dargestellt, der die Vereinigten Staaten von Linken, Feministen, Schwulen, Einwanderern, liberalen Eliten und anderen Sündern reinigen wird.

Ein Video, das kürzlich auf Trumps eigenem sozialen Netzwerk Truth Social veröffentlicht wurde, unterfüttert dieses Narrativ mit der Behauptung: „Gott brauchte jemanden, der bereit war, in die Höhle der Vipern zu gehen. Prangert die Fake News an, denn ihre Zungen sind so scharf wie die einer Schlange. Das Gift der Vipern ist auf ihren Lippen. Also schuf Gott Trump.“

Trump als verfolgter Märtyrer

Evangelikale und Pfingstler wie auch reaktionäre Katholiken glauben nun, dass Trump mehr ist als eine politische Persönlichkeit. Der ehemalige Präsident wurde von Gott gesalbt, um Amerika wieder großartig zu machen. Ja, er wird strafrechtlich verfolgt, weil er mutmaßlich eine Frau angegriffen hat, den Ausgang einer Wahl durch Gewalt kippen wollte und Betrug begangen hat, aber das zeigt, dass er ein Märtyrer ist, der von bösen Feinden verfolgt wird, genau wie Jesus Christus.

Religion in der Politik ist die größte Bedrohung für die Demokratie, mehr noch als soziale oder wirtschaftliche Ungleichheit, verlogene Politiker oder Korruption, die allesamt schlimm genug sind. Liberale demokratische Institutionen sind dazu da, Interessenkonflikte zu lösen. Streitigkeiten über Steuern, Landnutzung, Agrarsubventionen und so weiter können durch Argumente und Kompromisse zwischen politischen Parteien beigelegt werden. Heilige Angelegenheiten jedoch nicht. Die Wahrheit Gottes ist nicht verhandelbar.

Aus diesem Grund kann eine militante religiöse Gruppe wie die Hamas keine demokratische politische Partei sein. In einem radikalislamischen Staat gibt es keinen Raum für Debatten oder Kompromisse. Das Gleiche gilt für israelische religiöse Extremisten, die glauben, ihre Rechte seien durch die Bibel gerechtfertigt. Über Wasserrechte lässt sich streiten, über heiliges Land nicht.

Es geht nicht darum, die Menschheit von religiösen Überzeugungen zu heilen. Der Wunsch, sich einer höheren Autorität zu unterwerfen, an ein Leben nach dem Tod zu glauben, die Welt in Gläubige und Ungläubige einzuteilen, Sünder zu schmähen und Heilige zu verehren und die Etappen des Lebens mit heiligen Ritualen zu feiern, ist ein universeller menschlicher Wesenszug. Aber solche Sehnsüchte gehören in Kirchen, Tempel, Synagogen und Kultstätten, nicht in den politischen Diskurs. Religiöse und politische Autorität dürfen sich nicht überschneiden.

Messianismus in der Politik

Nehru hat das verstanden. Thomas Jefferson hat das verstanden. Und viele christliche Führer, vor allem protestantische, die nicht wollten, dass sich der säkulare Staat in religiöse Angelegenheiten einmischt, haben das ebenfalls verstanden. Katholiken hatten schon eher ein Problem mit der Trennung von Kirche und Staat, aber die meisten haben gelernt, damit zu leben.

Der Grund, warum so viele Demokratien heute von Messianismus in der Politik bedroht sind, ist nicht, dass die organisierte Religion an Stärke gewonnen hätte. Ich glaube sogar, dass das Gegenteil der Fall ist. Zumindest in den meisten westlichen Demokratien ist die kirchliche Autorität fast völlig zusammengebrochen.

Das gilt sogar für die USA: Während sich die meisten Menschen immer noch als Gläubige des einen oder anderen Glaubens betrachten, folgen viele amerikanische Christen, insbesondere diejenigen, die sich zu Trump als Retter hingezogen fühlen, freiberuflichen Predigern oder spirituellen Unternehmern.

Suche nach einem Retter!

In vielen Teilen Europas, wo der Rechtspopulismus auf dem Vormarsch ist, hat die Aushöhlung der kirchlichen Autorität seit den 1960er-Jahren Menschen, die früher regelmäßig in die Kirche gingen und sich von ihren Priestern und Pastoren sagen ließen, wie sie wählen sollten, auf sich selbst zurückgeworfen.

Heute sind sie in Sorge und ­verunsichert durch demografische, politische, soziale, sexuelle und wirtschaftliche Veränderungen und suchen einen Retter, der sie in eine einfachere, verlässlichere und sicherere Welt führt. Es gibt viele machthungrige Demagogen, die mehr als bereit sind, diesen Wunsch zu befriedigen.  

Aus dem Englischen von Sandra Pontow.
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Der Autor:

Beigestellt

Ian Buruma (*1951 in Den Haag) studierte chinesische Literatur in Leiden und japanischen Film in Tokio. Er ist Autor, zuletzt erschien: „The Collaborators: Three Stories of Deception and Survival in World War II“ (Penguin, 2023).

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