Gastkommentar

Fakten statt Ideologie: Wie soll das bitte gehen?

Einwurf. Mit seiner gängigen, aber unsinnigen Forderung liegt Dominik Wlazny, Gründer und Chefideologe der Bier-Partei, voll im Trend.

Dominik Wlazny hat bei der Bekanntgabe der Kandidatur seiner Partei zum Nationalrat mitgeteilt, auf welcher Grundlage er politische Entscheidungen getroffen sehen will. Fakten, nicht Ideologien, sollen die Basis seines politischen Handelns bilden. Damit bedient er ohne Zweifel die Erwartungen der aktuellen Modeströmung in der politischen Debatte der Gegenwart.

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Erst im vergangenen Herbst hat etwa Boris Rhein mit dem vollkommen sinnlosen Slogan „Innovation statt Ideologie“ die Wahl zum hessischen Ministerpräsidenten gewonnen. Unsinnig ist der Slogan, weil ohne Ideologie gar nicht gesagt werden kann, welche neue Erfindung als Innovation bewertet werden soll, also als ein wertvoller Beitrag zum Fortschritt, und auf welche Neuerung das nicht zutrifft. Ideologiefrei betrachtet, handelt es sich bei den Erfindungen des Digitalrechners und der Gaskammern um zwei Innovationen aus dem Jahr 1941.

Erst aus der Perspektive einer wertebasierten, also ideologischen Betrachtung, wird die eine Erfindung zur Innovation, die andere zu einem kriminellen Akt. Dennoch gilt der Vorwurf, eine politische Entscheidung sei ideologisch begründet, im aktuellen Diskurs als jenes finale Argument, das jede weitere Auseinandersetzung mit ihrer Qualität vollkommen erübrigt.

Beispiel Klimawandel

Tatsächlich liegt ausnahmslos jeder politischen Entscheidung eine Ideologie zugrunde, schon deshalb, weil aus Tatsachen allein keine wie immer geartete Handlungsanweisung folgt.

Für diese Feststellung machen wir die Probe aufs Exempel anhand des Klimawandels. An den unleugbaren Tatsachen, dass die Erderwärmung zu einem guten Teil auf die Wirtschaftsweise des Nordens zurückzuführen ist, dass sie an jedem Tag zum Aussterben von mehr als hundert Arten führt, dass sie mittlerweile auch massive Gesundheitsschäden zur Folge hat, zweifelt mittlerweile keine ernst zu nehmende Person mehr. Aus diesen Fakten allein folgt aber rein gar nichts. Auf die Frage, was genau in Anbetracht dieser Tatsachen getan werden soll, kann es keine wissenschaftliche oder mathematische Antwort geben, weil Wissenschaft niemals normativ sein und Verhaltensweisen vorgeben kann, und weil sie aufhört Wissenschaft zu sein, sobald sie das unternimmt.

Bitte Ideologie offenlegen!

Politik kann sich deshalb nicht ausschließlich auf Fakten und wissenschaftliche Erkenntnis berufen, sondern muss sich über ihre ideologische Ausrichtung erklären. Im konkreten Fall muss sie sagen, ob der Schutz des Lebens die oberste Maxime ihres Handelns ist, oder ob sie zugunsten anderer Ziele das Artensterben etc. in Kauf nimmt, wenn das zur Beförderung ihr wichtiger erscheinender Interessen – etwa Rücksichten auf den Wirtschaftsstandort oder die Wahrung von Wettbewerbsvorteilen – erforderlich ist.

Wo es um politisches Handeln geht, wird es ohne beherzte Wertungen nicht abgehen und nicht ohne die Setzung von angreifbaren Maßstäben. Wer an der politischen Auseinandersetzung teilnehmen will, ist deshalb verpflichtet, diese Maßstäbe zu benennen, also seine Ideologie offenzulegen.

Wer behauptet, er stütze seine Entscheidungen auf Tatsachen und nicht auf Ideologien, hat entweder nicht die leiseste Ahnung von den Motiven seiner Haltungen und Handlungen oder aber gute Gründe, diese Motive nicht benennen zu wollen: Wer will schon öffentlich sagen, dass ihm Profit, die Weiterführung von Subventionen für umweltschädigende Wirtschaftsaktivitäten und die Verhinderung neuer Steuern auf solche wichtiger scheinen als der Verlust jener 15.000 Menschenleben, die nach Angaben der UNO der aktuell von der Erderwärmung geforderte Todeszoll sind.

Es sind die Vertreter solcher erbärmlichen Ideologien, die sich um die Erklärung ihrer eigenen ideologischen Standpunkte drücken, indem sie alle Ideologie schlechthin für obsolet erklären.

Ideologien, also Kataloge benennbarer und verhandelbarer Werte, sind als Richtschnur für das gesellschaftliche und politische Handeln einer Kulturgesellschaft unverzichtbar. Die Denunziation jeder Ideologie bedeutet nichts weiter als die Verächtlichmachung der Orientierung von Gemeinwesen an Werthaltungen.

Mit Nachdruck betrieben, wird sie zur Verschleierung jener handfesten, radikalen Ideologien, die sich gern selbst als „Vernunft“ und „Hausverstand“ berühmen. In Wahrheit handelt es sich dabei meistens um nichts weiter als um die Verteidigung des natürlichen Rechts des Stärkeren, das mit einem Bündel simpler Wirtschaftlichkeits- und Rentabilitätsrücksichten mehr als nur dürftig begründet wird.

Die letzte Konsequenz

Was die einen zielorientiert und erfolgreich zur Durchsetzung von Gruppeninteressen als völlig ideologiefreie, ausschließlich tatsachenorientiere Entscheidungen verkaufen, wird von anderen gedankenlos als die einzig noch denkbare Basis politischen Handelns nachgebetet: gänzlich wertfreie Tatsachenpolitik. So etwas gibt es in der Praxis freilich ebenso wenig wie trockenes Wasser.

Die Erfüllung des Postulats würde nur einfach die Preisgabe jeder ethischen und humanistischen Grundlegung unserer Gemeinwesen bedeuten und die Delegation aller Fragen der Gestaltung menschlicher Gemeinschaft an die mathematischen Modelle der künstlichen Intelligenz zur logischen Folge haben. Das wäre nämlich die letzte Konsequenz dieser Chimäre von der ideologiefreien Politik. In Wahrheit ist eine solche natürlich von niemandem intendiert, und man muss sich vor ihr auch nicht fürchten. Eher schon vor der Politik der Chefideologen der Ideologiefreiheit.

Sven Hartberger (* 1958) ist Jurist, Autor und Dramaturg. Er war Intendant des Wiener Operntheaters, danach künstlerischer Leiter des Klangforums Wien. Seit 2022 ist er Sprecher der Gemeinwohl-Ökonomie Österreich.

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