Gastkommentar

Läuft Orbáns Außenpolitik aus dem Ruder?

Peter Kufner
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Viktor Orbáns außenpolitisches Ziel ist es, Ungarn – das im transatlantischen Gefüge nur ein peripheres Land in Mittelosteuropa ist – in das Zentrum globaler Entscheidungsfindung zu drängen. Doch diese Strategie ist riskant.

Europäische Regierungsvertreter und Diplomaten atmeten erleichtert auf, als EU-Ratspräsident Charles Michel vergangene Woche verkündete, dass der Rat das 50-Milliarden-Euro-Hilfspaket für die Ukraine einstimmig bewilligt habe. Nach wochenlangen, ungewöhnlich starken Spannungen zwischen Ungarns Ministerpräsidenten, Viktor Orbán, und seinen europäischen Partnern zeugt diese Entscheidung von der Bereitschaft der EU, das vom Krieg gebeutelte Land zu unterstützen.

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Orbán hatte damit gedroht, gegen das Hilfspaket ein Veto einzulegen, was ihm den Vorwurf der Erpressung einbrachte. Derweil spielten einige europäische Regierungen mit dem Gedanken, Ungarn wegen Orbáns anhaltender Missachtung des EU-Regelwerks mithilfe eines Verfahrens nach Artikel 7 der EU-Verfassung die Stimmrechte zu entziehen. So war das Ergebnis letztendlich für alle zufriedenstellend.

Gesichtswahrende Zusagen

Aufseiten des Rats wurde deutlich, dass die EU ihren Standpunkt durchzusetzen vermag, wenn sie hart bleibt und gegenüber Orbán deutlich macht, dass es keine weiteren Zugeständnisse in Bezug auf den Status der Strukturfondsmittel geben wird.

Für Orbán wiederum wurden zwei gesichtswahrende Ergänzungen in den endgültigen Text aufgenommen: Im Europäischen Rat wird es eine Diskussion über den jährlichen Hilfsfondsbericht geben, und die Europäische Kommission verpflichtet sich, das Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Ungarn auf „faire und objektive Weise“ durchzuführen. Ungarns staatlich kontrollierte Medien haben dies als historische Siege verkauft, die Orbán von der sogenannten Brüsseler Elite schmerzlich zugestanden werden mussten. „Wir haben es geschafft“, verkündete ein Artikel auf Orbáns offizieller Website.

Der Ministerpräsident kritisiert seit Langem die „Brüsseler Elite“, spricht sich gegen viele EU-Entscheidungen aus und widerspricht nachdrücklich den Einschätzungen über Ungarns miserable Rechtsstaatlichkeit. Warum aber hat Viktor Orbán diesmal seine Forderungen so rigoros aufrechterhalten, dass er damit beinahe ein lebensrettendes Hilfspaket für die Ukraine verhindert hat?

Einer der Gründe dafür ist eben die Tatsache, dass seine Regierung derzeit im Rahmen des EU-Konditionalitätsmechanismus für Rechtsstaatlichkeit überprüft wird und mehrere Milliarden an Strukturfondsmitteln eingefroren sind, bis Ungarn die in 27 Wegmarken festgelegten demokratischen Grundregeln der EU einhält. Das anhaltende Einfrieren der Mittel rückte deren Status in den Mittelpunkt von Orbáns Auseinandersetzungen mit der EU.

Orbáns Kurswechsel

Nach mehrmonatigen intensiven Verhandlungen, bei denen keine Freigabe nennenswerter Gelder erzielt wurde, wechselte Orbán im vergangenen Jahr seinen Kurs und begann, mit drastischen Mitteln Zugeständnisse von der Kommission zu erpressen.

So kündigte Ungarns Regierung an, ihr Veto gegen eine mögliche Aufstockung des Haushalts und gegen die Ukraine-Hilfe einzulegen, Letzteres von entscheidender Bedeutung für die Sicherheit der EU selbst. Zwar bestritten mehrere ungarische Politiker, dass eine direkte Verbindung zwischen dem Umgang mit den eingefrorenen Geldern und der Haltung des Landes in der Ukraine-Frage bestehe. Doch hatte Orbán bereits im Juli klargemacht, dass er diese beiden Themen im Zusammenhang betrachtet, und erklärt, Ungarn werde sich nicht einfach fügen, wenn die EU ihre Pläne zur Genehmigung einer neuen Finanzierungsstruktur für die Gemeinschaft vorlege.

Im Dezember ermutigte Orbán ungarische Diplomaten offen, nicht vor drastischen Schritten zurückzuschrecken, was ihm dann bei der Jahresendtagung des Europäischen Rats in die Karten spielte, wo ihm ein gewichtiges Zugeständnis gemacht wurde: zehn Milliarden Euro eingefrorener Mittel aus dem Kohäsionsfonds.

Riskante Strategie

Die Spielchen, die Orbán in den für Ungarn und die gesamte EU entscheidenden Fragen treibt, sind inzwischen zur Gewohnheit geworden und hängen letztlich damit zusammen, dass er seine Macht auf der internationalen Bühne ausbauen möchte. Verbündete und Freunde sind inzwischen oft lediglich Spielbälle, die als Teil seiner Strategie durch Erpressung instrumentalisiert werden können.

Diese Entwicklung geht auf Orbáns 2010 öffentlich geäußertes Bestreben zurück, ein neues außenpolitisches Paradigma für Ungarn zu schaffen. Sein Ziel ist es, Ungarn – in der transatlantischen Zusammenarbeit ein peripheres Land in Mittelosteuropa – ins Zentrum globaler Entscheidungsfindung zu drängen. Diese Strategie ist durchaus risikobehaftet und hat sich als recht kostenaufwendig erwiesen, da der Aufbau wirtschaftlicher und politischer Beziehungen zu Russland, der Türkei und – vielleicht am wichtigsten – zur Volksrepublik China erforderlich war.

Diese zunehmenden Bande mit autoritären Machthabern brachten Orbán in Konflikt mit seinen westlichen Verbündeten. Der Spagat zwischen den konkurrierenden Forderungen von Ost und West erwies sich für Orbán und seine politisch loyalen Wirtschaftseliten jedoch als äußerst nützlich. Ungarn ist sicher geblieben, hat einen Anstieg ausländischer Direktinvestitionen zu verzeichnen und ist zu einem bedeutenden Akteur in der globalen Entscheidungsfindung aufgestiegen.

Gefährdetes Doppelspiel

Der Ausbruch und die Fortdauer des Kriegs in der Ukraine brachten diese vorteilhafte Position jedoch in Gefahr. Europas offener Konflikt mit Russland und die Abkopplung von China drohen den Erfolg von Orbáns Doppelspiel zunichtezumachen. Er sieht sich mit einer neuen politischen Landschaft konfrontiert, in der Polen, das Baltikum und Skandinavien zu sicherheitspolitischen Knotenpunkten des Kontinents werden, sowie mit der Aussicht, dass die Ukraine mit Unterstützung der USA ein EU-Mitglied wird. In diesem Szenario wird Ungarn an den Rand zurückgedrängt.

Orbán versucht daher systematisch, den EU-Beitritt der Ukraine zu verzögern, während er gleichzeitig um die Aufrechterhaltung seiner Beziehungen zu Russland und China kämpft, an denen er ein persönliches Interesse hegt. Seine zunehmend radikalisierte Außenpolitik führt jedoch dazu, dass sich Ungarn von seinen engsten Verbündeten entfremdet und die europäische Einheit in den wichtigsten Fragen gefährdet.

Vielleicht zu ihrer eigenen Überraschung ist es den Regierenden in Europa gelungen, Orbán wieder auf Linie zu bringen. Doch das Problem ist damit nicht gelöst.

Um seine visionären Ziele zu verwirklichen, braucht Orbán die Macht, die er vor 14 Jahren bei seiner Rückkehr ins Amt erlangt hat. Und er ist nicht bereit, sie aufzugeben. Sein wachsender Autoritarismus ist die Voraussetzung für seine Risikobereitschaft. Solang er nicht befürchtet, die Macht im eigenen Land zu verlieren, kann er in Europa und darüber hinaus außenpolitische Wagnisse eingehen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Die Autorin

Zsuzsanna Szelényi ist Expertin für Außenpolitik, ehemalige ungarische Abgeordnete und Autorin von „Tainted Democracy: Viktor Orbán and the Subversion of Hungary“ („Zerrüttete Demokratie: Viktor Orbán und die Unterwanderung Ungarns“).

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