Mein Freitag

Hallo, Nachbar!

Man will ja nicht voyeuristisch sein. Wie die Freunde in „Friends“, die dem „Ugly Naked Guy“ gegenüber beim Leben zuschauen.
Man will ja nicht voyeuristisch sein. Wie die Freunde in „Friends“, die dem „Ugly Naked Guy“ gegenüber beim Leben zuschauen.NBC/Courtesy Everett Collection via www.imago-images.de
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Der Deal in der Großstadt ist: Wir lassen die Vorhänge offen, schauen aber nicht zu genau rein.

Vielleicht kennen Sie das Phänomen selbst. Oder aus der Serie „Friends“, wo die sechs Freunde viel Freude daran haben, ihrem Nachbarn von gegenüber durch die großen New Yorker Wohnungsfenster beim Leben zuzuschauen. Bei ihnen ist es ein Nudist, was die Beobachtungen ein bisschen interessanter macht, wobei sie ihn gemeinerweise „Ugly Naked Guy“ nennen. Bei mir ist es der Architekt. Nackt gesehen habe ich ihn nie. Aber auch ich habe eine Entdeckung gemacht!

Es ist ja so: Manche Freuden gestattet man sich am besten nur gelegentlich. Der genaue Blick in die Nachbarwohnung – etwas unter unserer gelegen, also perfekter Winkel – gehört dazu. Man will ja nicht allzu voyeuristisch sein. Das ist der Deal in der Großstadt: Man lebt mit offenen Vorhängen, aber man schaut nicht zu genau hin. Eine leichte Kurzsichtigkeit hilft mir, diese Vereinbarung einzuhalten. Wenn ich die Brille aufhabe (und dem Motto „Mut zur Unschärfe“ kurz entsage), sehe ich dann ein bisschen mehr: Oh, der Architekt hat auch einen Ventilator aufgestellt! Schau, heute sitzt er wieder an seinem Zeichentisch! Dann die Entdeckung. Schaue ich also eines Abends rüber und sehe, wie der Architekt die Handgelenke schwingt, ein Staberl in der Hand, mit geschlossenen Augen, der Oberkörper sanft wippend: Der Architekt dirigiert!

Was Fragen über Fragen aufwirft. Ist er eigentlich Dirigent? Wurde auf dem Zeichentisch überhaupt je ein Plan gezeichnet? Oder dirigiert er nur nebenbei, nach Dienstschluss? Hört er die Musik oder imaginiert er sie nur? Liest er das hier vielleicht und antwortet mir? Könnten wir eine dieser Beziehungen aufbauen, bei der wir nur übers Fenster kommunizieren? Ich fürchte, jede nähere Begegnung würde den Zauber zerstören. Höchstens ein Joghurtbecher-Telefon könnten wir über die Straße spannen. Ich würde ihn fragen, welche Symphonie seine liebste ist. Und ob die Nachbarn unter uns auch so ein spannendes Leben führen. Er müsste den besten Blickwinkel auf sie haben.

E-Mails an: katrin.nussmayr@diepresse.com

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