Literatur

Das Mädchen, das ständig zeichnete

Iris Wolff ist in Sibiu (Hermannstadt) geboren und mit acht Jahren nach Deutschland gekommen.
Iris Wolff ist in Sibiu (Hermannstadt) geboren und mit acht Jahren nach Deutschland gekommen.Maximilian Goedecke
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Iris Wolff erzählt in „Lichtungen“ von einer Liebesannäherung, die immer wieder unterbrochen wird, unter anderem durch den Fall des Eisernen Vorhangs im Osten Europas.

Man sieht sie förmlich vor sich, die Fähre, auf der Kato und Lev ihre wochenlange Reise durch die Städte Europas beenden, man riecht den alten Diesel, spürt den Fahrtwind in den Haaren und hört das Dröhnen der Maschinen. Etwas ist zu Ende, aber etwas beginnt auch. Die beiden sind angekommen, wo genau in ihrer Beziehung zueinander, ist nicht sicher, es könnte eine Vertiefung sein, aber das ist nur eine Vermutung von Lev und der Leserin. Nur das geografische Ziel ist verbürgt, der Heimatort Levs im rumänischen Siebenbürgen, denn es hat ihn nach dem langen Unterwegssein irgendwie zurückgezogen, und zu seiner Überraschung kommt Kato mit ihm, ohne dass er sie gefragt hätte. Niemals hätte er gewagt, sie zu bedrängen.

Iris Wolff erzählt ihren Roman „Lichtungen“ von der Gegenwart aus und schreibt sich Kapitel um Kapitel zurück in die Vergangenheit, die Nummerierung verläuft folgerichtig von neun bis eins – neun das erste, eins das letzte. Diese Methode ist wie ein kleiner Stachel, der ins Gehirn pikst, man erfährt nach jedem Ende eines Kapitels nicht, wie es weitergeht, sondern was zuvor passiert ist, und das nur in losen „Erinnerungsinseln“, wie die Autorin es selbst in ihrem Vorwort ausdrückt. Um den Stachel zu vermeiden, könnte man das Buch auch von hinten lesen, von eins bis neun, dann hätte man eine von leichter Hand erzählte Geschichte, die einen ungefiltert hineinzieht.

Kinder in Ceaușescus Rumänien

Die zeitlichen Brüche haben jedoch den Vorteil, dass man Wolffs Prosa langsamer liest und so ihre lyrische Zartheit besser erkennt. Auch entspricht diese Methode dem Phänomen, wie man einen Menschen eigentlich kennenlernt: „. . . . und wenn sich die Begegnung verstetigt, erfährt man nach und nach, was denjenigen zu dem Menschen gemacht hat, der er heute ist“, so die Autorin.

Man könnte die Kapitel auch einzeln für sich lesen, sie sind kleine abgerundete Episoden im Leben der Protagonisten, hauptsächlich aus Levs, Kato wird von Levs Perspektive aus lebendig. Sie kennen sich, seit sie Kinder in Ceaușescus Rumänien waren, Kato hat ihm monatelang den Unterrichtsstoff ans Bett gebracht, als Lev für sehr lange Zeit seine Beine nicht mehr bewegen konnte. Er aber wollte mit dem sonderbaren Mädchen, das ständig zeichnete und mit dem niemand sprach, gar nichts zu tun haben. Später dreht es sich um, Kato muss mit 14 Jahren die Schule verlassen, obwohl sie die beste Schülerin der Klasse ist, ihr Vater will sie nicht länger im Haushalt entbehren, die Mutter ist schon vor langer Zeit gestorben. Nun bringt Lev ihr regelmäßig den Stoff.

Iris Wolff, die in Sibiu (Hermannstadt) geboren ist und mit acht Jahren nach Deutschland kam, wirft einige Schlaglichter auf ihr Herkunftsland, die Brutalität in der Armee etwa, in der Lev seinen Dienst ableisten muss, oder die Armut der Bevölkerung auf dem Land. Kein Wunder, dass Kato die erstbeste Gelegenheit ergreift, in den Westen zu gehen, nachdem die Grenzen offen sind, Lev bleibt zurück. Und doch gibt es ein Ende oder einen Anfang, der für beide ein Glück sein könnte.

Buch

Lichtungen

Iris Wolff

Roman. 256 S., geb., € 25,50 (Klett-Cotta)

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