"Wir gehen immer nur kegeln"

Drei Kinos, eine Hand voll Kaffeehäuser: Simi Valley, Standort der Ronald-Reagan-Bibliothek, wird als sicherste Stadt Amerikas geschätzt und als langweilige Schlafstadt verachtet. Was verschlug den Präsidenten in die Vorstadt?

In Simi Valley, Kalifornien, pilgern täglich Tausende zu Ronald Reagans GrabE
in Mann um die 40, in grünen kur zen Hosen und buntem T-Shirt, tritt schweigend einen Schritt näher an das Grab. In den Magnolien-Bäumen dahinter zwitschern Vögel. Der Mann beugt den Kopf, bekreuzigt sich und betet. Eine Frau fasst ihr kleines Kind fest bei der Hand. "Pssst", zischt sie ihm ins Ohr, "und bleib bei Mami!" Ein wenig abseits steht lächelnd eine Museumsangestellte. Sie wiederholt mit leiser, geduldiger Stimme ein ums andere Mal dieselben Worte: "Er liegt mit dem Kopf hinten. Seine Füße sind vorne. So kann er nach Westen schauen. Sie wird dann neben ihm ruhen, zu seiner Linken." Er, das ist Ronald Reagan, der 40. Präsident der USA; sie ist seine Frau, Nancy.

Reagans Grab, auf dem Gelände der "Ronald-Reagan-Bibliothek" im kalifornischen Simi Valley, ist zur Pilgerstätte geworden. In den ersten Wochen nach dem Tod des Präsidenten am 5. Juni zählte man im Schnitt 3800 Besucher pro Tag, fünfmal so viele wie früher. Anfang Juli wurde im zugehörigen Museum eine Ausstellung über die Begräbnisfeierlichkeiten eröffnet: "Trauer in Amerika". Für den Besuch weiterer Zigtausend ist damit gesorgt.

Ein Samstagmittag, es ist kühl und bewölkt. In der Bibliotheks-Cafeteria kaut ein Herr um die 60 zufrieden an einem Hotdog. Seine Frau fotografiert ihn dabei. Das Essen sei gut, sagt der Mann. Das Reagan-Museum sei phänomenal, sagen beide. Das Paar stellt sich als Bruce und Charolette Bahrendt aus Odessa, Texas, vor. Charolette erzählt, dass sie Reagan gewählt habe, obwohl sie Demokratin ist. "Er strahlte Optimismus aus. Er hat uns mitgerissen." Die Bahrendts sind eineinhalb Tage im Auto gesessen, um Grab und Museum zu sehen. Jeder, so sagen sie, werde kommen wollen.

Die Stadt Simi Valley liegt in einem kleinen Kessel, der beinah rundum von kleinen Bergen umgeben ist. Fährt man auf dem Ronald-Reagan-Freeway Richtung Osten aus diesem Kessel hinaus, auf den Santa Susana Pass hinauf, so sieht man unter sich das Zehn-Millionen-Menschen-Meer L. A.

Zehn Autominuten liegen zwischen Simi und dem Moloch; zehn Minuten, in denen sich alles ändert. Simi hat nichts von der verwirrenden Vielfalt und Buntheit, vom Sprachenmix L. A.s; nichts von seinem Oszillieren zwischen Glitzer und Verfall; nichts von dem atemlosen, hektischen "Hallo - schön, dich zu sehen - Ich hab's eilig"-Wahnsinn der südkalifornischen Metropole.

Simi ist weiß, Mittelklasse und langsam. Vier von fünf Menschen hier sind weiß, in Los Angeles ist es bloß jeder Zweite. 46 Prozent der Angelinos sind südamerikanischer Abstammung, in Simi gehören nur 16 Prozent der Leute in diese Kategorie. Diese Einfärbigkeit machte Simi Valley 1992 berühmt: Verteidiger im Prozess gegen vier weiße Polizisten, die angeklagt waren, den Schwarzen Rodney King blutig zusammengeschlagen zu haben, erreichten eine Verlegung des Prozesses vom Bezirk L. A. in den Bezirk Ventura. Simi Valley wurde zum Gerichtsort ernannt. Die Verteidiger hatten mit der Verlegung auf eine weiße, polizeifreundliche Jury gehofft. Ihre Rechnung ging auf: In der 12köpfigen Jury saß kein einziger Schwarzer. Das Gericht sprach die Polizisten frei - und löste mit seinem Urteil tödliche Rassenunruhen in Los Angeles aus.

Das Rodney-King-Trauma ist lang vergessen. Simi träumt jetzt im Reagan-Fieber. In den Tagen nach Reagans Tod strömten die Einheimischen in Scharen zur Präsidenten-Bibliothek. Sie schleppten Nelken in Zellophan, Sternenwimpel und ewige Lichter an; Frauen zogen Huldigungsbriefe aus ihren Handtaschen, Männer legten ehrfurchtsvoll Plakate nieder. Auf einem stand: "Danke für die Wahl von Simi Valley zur letzten Ruhestätte. Wir sind geehrt. In Liebe, die Bancrofts." Warum Reagan wirklich hier liegt?

Der Blick von Reagans Grab aus schweift frei. An klaren Tagen kann man in 30 Kilometer Ferne den Pazifik sehen. Die Berge um Simi ragen kaum mehr als 1000 Meter hinauf. Sie stehen unbewaldet, von dichter Macchia überzogen. Gras und wild wachsender Salbei sind im Sommer zu gelbbraunem Gestrüpp verdorrt. Ein glimmender Zigarettenstummel würde genügen, hügelweit eine Flammen-Hölle zu entfachen. So geschah es im vergangenen Herbst: Eines der vielen Feuer, die damals Los Angeles bedrohten, brannte am Südrand von Simi.

Laura Benitez ist aus dem nahen Santa Monica zu Reagans Grab gekommen. Ob sie sich die Stadt auch anschauen werde? Die junge Dame mit den werbe-weiß blitzenden Zähnen lacht. "Wirklich nicht", sagt sie. "Simi ist doch fad, eine Schlafstadt."

Tatsächlich: Drei Kinos, eine Handvoll Kaffeehäuser der Marke Starbucks und ein Theater für 240 Zuschauer - das macht nicht viel her. Simi Valley zählt rund 120.000 Einwohner, und seit 1970 hat sich die Zahl der Menschen, die hier leben, verdoppelt. Aber es fehlt an Bars und guten Restaurants. Die Stadt hat keine echte, gewachsene Mitte, nicht einmal ein Einkaufszentrum.

Was Menschen an Simi mögen? Nichts, wenn man Teenager fragt. Vor dem städtischen Kulturzentrum - eine Art griechischer Tempel mit korinthischen Säulen in Wüstenocker und Himmelblau - warten zwei Mädchen auf eine Freundin. Sie tragen schwarze Jeans, T-Shirts und Glitzer-Makeup. Silberne Armreifen klimpern. Ob Simi cool sei? Die eine ("Ich heiße Candice") antwortet langsam und gedehnt: "Pfhhhhh?" Simi brauche einen Platz, an dem Teenager "abhängen können", sagt sie. "Wir gehen immer nur kegeln. Langweilig."

Was Menschen um die 30 oder 40 hierher treibt? Dan Guglatch wohnt seit zehn Jahren in Simi Valley. Er pendelt täglich zur Arbeit nach Los Angeles Downtown - eine Reise, die zur Stoßzeit eine gute Stunde dauern kann. Er erläutert, dass die öffentlichen Schulen gut seien, dass er sich ein schönes Haus habe leisten können und dass der Ort sicher sei.

Sicherheit - es ist das Schlüsselwort der Vorstadt. In Simi Valley wurden in den vergangenen Jahren mehr und mehr abgeschlossene Siedlungen errichtet. Unbefugten ist hier der Zutritt verboten; Einfahrtstore können nur mit Magnetkarte oder Pinnummer geöffnet werden. In "Wood Ranch", dem Wohngebiet unterhalb der Reagan-Bibliothek, reiht sich eine solche Siedlung an die nächste.

Clara Kuo arbeitet für die Immobilienfirma Coldwell Banker. Sie schwärmt von den geschlossenen Siedlungen: "Für eine monatliche Gebühr darf man das Schwimmbad und die Tennisplätze benutzen. Der Gärtner für den Rasen vor dem Haus ist inbegriffen. Und wenn ich die Haustür nicht zusperre, so kommt trotzdem keiner rein." Wäre die Siedlung nicht abgezäunt, meint Kuo, so hätte man "bestimmt mehr Sorgen".

Mehr Sorgen? Man möchte meinen, das Simi außerhalb der Sperrsiedlungen sei Sodom und Gomorrha. Nichts dergleichen. Simi wurde in den FBI-Statistiken ab 1998 jahrelang als US-Stadt (über 100.000 Einwohner) mit der niedrigsten Verbrechensrate geführt. Erst im jüngsten Bericht musste die Gemeinde den ersten Rang ans benachbarte Thousand Oaks abgeben. Auf der Polizeistation erläutern die Offiziere Livingstone und Morgan, dass es Kriminelle in Simi vor allem wegen der Kessellage schwer hätten: "Es gibt halt nur zwei Fluchtwege."

Lothar Apel, vor mehr als 40 Jahren aus Kassel, Nordhessen, in die USA eingewandert, lebt seit 1970 in Simi. Er fügt hinzu, dass dem Ort das Neighborhood Watch Program helfe. Wer hier wohnt, ist angehalten, die Augen offen zu halten und "Verdächtiges" zu melden.

Am östlichen Ende der Stadt werkt ein kleiner, blasser Mann mit weißen Haaren an den Fenster-Läden seines Einfamilienhauses. Als ein ihm unbekanntes Auto vor seinem Grundstück parkt, horcht er auf. Ob er helfen könne? Nein danke. Man wolle sich nur ein bisschen in Simi umschauen, die Stadt kennen lernen. Der Ort sei "so schön ruhig", erwidert der Mann, "und ungefährlich". Die Antwort klingt vertraut.

Wie kommt es, dass Reagan ausgerechnet in Simi Valley liegt? Was verschlug den Präsidenten in die Vorstadt? Zufall, heißt es. Wäre es nach dem "großen Kommunikator" gegangen, so stünde seine Bibliothek auf dem Campus von Stanford. Aber die Universität in der Nähe von San Francisco sagte bereits in den achtziger Jahren nein. Da bot ein Investor den Reagans 40 Hektar auf einem Hügel oberhalb von Simi an - geschenkt, versteht sich. 1991 wurde die Bibliothek eröffnet. Ihr Bau hatte 57 Millionen Dollar gekostet. Das Gebiet um die Bibliothek - früher weites, leeres Land - ist inzwischen dicht besiedelt.

Reagan, so sagt man, war ein Präsident, zu dem alle einen Draht hatten. Alle - das sind nicht die Intellektuellen in New York und Hollywood, nicht die Armen in den verwahrlosten Vierteln Detroits und L. A.s. Alle - das ist das mittelständische, großteils weiße Amerika, das in Orten wie Simi zu Hause ist. Dass Reagan hier liegt - Zufall.

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