Gastkommentar

Israels Selbstverteidigung und die europäische Verantwortung

Warum die europäische Iran- und Nahost-Politik sehr wohl mitverantwortlich für das Massaker vom 7. Oktober ist.

Die Vernichtungsaktion der Hamas und das Pogrom unter Beteiligung von Teilen der palästinensischen Zivilbevölkerung in Südisrael waren nur durch jahrelange Unterstützung aus Teheran möglich, und die Voraussetzung für diese Unterstützung waren die Milliardengeschäfte europäischer Unternehmen mit dem iranischen Regime, die in den vergangenen Jahrzehnten von ausnahmslos allen europäischen Parteien und Regierungen gefördert wurden. Insofern hat die europäische Iran-Politik den antisemitischen und misogynen Blutrausch vom 7. Oktober mit ermöglicht. Solang es zu keiner 180-Grad-Wende in der europäischen Politik gegenüber dem Regime im Iran kommt, die perspektivisch auf einen Sturz der Machthaber in Teheran setzen müsste, bleiben die Solidarisierungen mit dem angegriffenen Israel genauso billige Rhetorik wie die formelhaften Beschwörungen eines „Nie wieder“ und „Wehret den Anfängen“.

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Illusion zerplatzt

Der 7. Oktober hat eine Illusion zerplatzen lassen, die in den vergangenen 15 Jahren auch Teile des israelischen Sicherheitsestablishments gehegt haben – mit fatalen Konsequenzen. Langfristig kann Israel sich nicht mit hochgerüsteten antisemitischen Terrorarmeen direkt an seinen Grenzen abfinden. Sie lassen sich nicht dauerhaft abschrecken, und ganz egal, wie man sich ihnen gegenüber verhält, weichen sie keinen Millimeter von ihrem erklärten Ziel ab, den jüdischen Staat zu vernichten. Dementsprechend wurde die Netanjahu-Regierung schon vor Jahren von israelischen Analysten unterschiedlichster Couleur dafür kritisiert, die Hamas in Gaza gewähren zu lassen und nicht präventiv gegen die immer bedrohlichere Bewaffnung der Hisbollah im Libanon vorzugehen.

Nun ist es in der israelischen Politik nahezu Konsens, dass die Hamas, die kurz nach dem 7. Oktober verkündet hat, derartige Vernichtungsaktionen jederzeit wiederholen zu wollen, militärisch zerschlagen werden muss. Darauf zielt das derzeitige Vorgehen der israelischen Armee, und jegliche wohlfeile Forderung nach einer bedingungslosen Beendigung der Kampfhandlungen muss sich den Vorwurf gefallen lassen, Israel seinen Feinden ausliefern zu wollen.

Gegen den israelfeindlichen Pseudo-Pazifismus, dem jede konsequente Reaktion des israelischen Militärs als „unverhältnismäßig“ gilt, sollte man an einen Satz des ehemaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland Paul Spiegel erinnern, der zu Zeiten der Zweiten Intifada gemeint hat: „Hinter dem Ruf nach Frieden verschanzen sich die Mörder.“

Dieser von den Existenzbedingungen Israels abstrahierende Ruf nach Frieden wird noch lauter werden, insbesondere dann, wenn auf den Krieg gegen die Hamas einer gegen die Hisbollah und gegen die iranischen Revolutionsgarden folgen sollte. Das iranische Regime wird seine in den vergangenen Jahren erlangten Machtpositionen in arabischen Ländern, mit dem es einen „Ring of Fire“ um Israel legen will, nicht von allein aufgeben. Es kann nur militärisch zurückgedrängt werden. Und die Machthaber im Iran werden nicht gestürzt werden, wenn die Macht der Revolutionsgarden im Land und in der Region nicht gebrochen wird. Die Hisbollah wird keine einzige ihrer 150.000 auf Israel gerichteten Raketen verschrotten, und sie wird ihre Radwan-Einheiten, von denen ein schlimmerer Angriff auf Nordisrael droht als jener der Hamas vom 7. Oktober, nicht selbst entwaffnen.

Annäherung sabotieren

Die internationale Gemeinschaft wird vermutlich nicht einmal dafür sorgen, dass jene UN-Resolution von 2006 endlich umgesetzt wird, die zumindest einen Rückzug der Hisbollah nördlich des Litani-Flusses vorsieht – was Israel, aus dessen nördlichen Gebieten seit dem 7. Oktober Zehntausende Menschen weggebracht werden mussten, derzeit täglich fordert.

Es ist wahrscheinlich, dass die kommenden Monate und Jahre von kriegerischen Auseinandersetzungen Israels mit seinen Todfeinden geprägt sein werden, die mit ihrer aktuellen Eskalation auch die arabisch-israelische Annäherung im Rahmen der Abraham Accords und die weit gediehenen saudisch-israelischen Gespräche sabotieren wollten. Die Erfahrung des 7. Oktobers hat Israel in Erinnerung gerufen, dass es sich mitunter aggressiv und präventiv verhalten muss, weil es keine Weltmacht, sondern lediglich eine Regionalmacht mit einer dauerhaft prekären Sicherheitslage ist. Dazu kommt, dass gegenüber islamfaschistischen Gegnern klassische Abschreckungspolitik sehr viel schlechter funktioniert als gegenüber mehr oder weniger säkularen arabischen Nationalisten – was bedeutet, dass Israel ab einem gewissen Punkt gar nichts anderes übrig bleibt, als auf die Beseitigung der militärischen Macht der antisemitischen Gegner zu setzen.

Wer perspektivisch Frieden oder auch nur eine Entspannung der Situation im Nahen Osten möchte, muss die Bekämpfung der Feinde des Friedens unterstützen – und das sind derzeit allen voran die Hamas, die Hisbollah, die proiranischen Milizen im Irak, in Syrien und im Jemen sowie das iranische Regime mit seinen Revolutionsgarden und seinem Nuklearwaffenprogramm. Eine ­180-Grad-Wende in der europäischen Iran- und Nahost-Politik müsste auch bedeuten, Israel bei der Bekämpfung der Hisbollah und der Strippenzieher in Teheran in jeglicher Hinsicht zu unterstützen – gegebenenfalls auch militärisch.

Stephan Grigat ist Professor für Theorien und Kritik des Antisemitismus an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen und Leiter des Centrums für Antisemitismus- und Rassismusstudien (CARS) in Aachen.

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